Schwarzer Sumpf

Short Stories

Bundesjugendspiele

Meine Mutter liess den Wagen rollen. “Sind wir hier richtig?”
“Glaub schon. Fahr noch etwas weiter.”
“Ihr habt euch doch immer am Pfarrheim getroffen. Bist du sicher, dass ihr euch nicht wieder da trefft?”
“Jaha! Auf dem Zettel stand Parkplatz beim McDonald’s.“
Beim oder vom McDonald’s?“
“Beim.”
“Aber wo soll das denn sein? Siehst du hier einen Parkplatz?”
“Nee, aber es ist schon Viertel vor. Um Punkt ist Abfahrt.”
“Jetzt mach dir mal keine Sorgen, wir finden das schon. Ich wende mal.”
Sie kurbelte am Lenkrad und steuerte den Wagen mit einem Gasstoss in die Einfahrt eines Fliesenhandels, um vor dem Geschäft zu wenden. Als wir wieder an der Strasse waren, sagte sie, “Moment mal, da geht doch Max!”
Ich beugte mich vor, um an ihr vorbeizusehen. “Stimmt, mit Freddi.”
“Ist das Freddi?”
“Ja.”
“Nein!”
“Doch, klar.”
“Der hat sich ja verändert. Der sieht ja fürchterlich aus.”
“Hä? Warum das denn?”
“Der ist ja ganz fahl im Gesicht. Und so dürr!”
“War der doch schon immer.”
“Auweia, ist der hässlich geworden! Dabei war der doch eigentlich ein ganz hübsches Kind.”
“Man sagt doch nicht, dass Leute hässlich sind.”
“Ich weiss, tut mir Leid. Du hast Recht. Aber Max habe ich sofort wiedererkannt. Der sieht ja gut aus. Ist schon ein richtiger junger Mann.”
Die beiden gingen auf der anderen Strassenseite und waren jetzt so nah, dass sie uns auch durch die Windschutzscheibe erkennen mussten. Ich hob die Hand zum Gruss und obwohl beide einmal in unsere Richtung schauten, gingen sie einfach weiter.
“Haben die uns nicht erkannt?”, fragte meine Mutter.
“Weiss nicht.”
“Oder sind die jetzt zu cool zum Grüssen?”
“Ist doch egal.”
“Aber die laufen doch jetzt genau dahin, wo wir gerade herkommen. Sollen wir doch noch einmal dort schauen?”
“Nein, da war nichts.”
Sie beschleunigte und wir fuhren den Weg zurück, aus dem wir gekommen waren. Schliesslich fanden wir den Parkplatz. Er war bereits voller Leute.

Ich nahm meine neue, schwarze Nike-Sporttasche aus dem Kofferraum und schlug die Klappe zu. Im Jahr davor war meine bunte Kindertasche zum Gespött geworden, darum hatte ich darauf bestanden, für diese Fahrt eine neue zu bekommen. Ich hatte sogar gedroht, nicht mitzufahren, falls ich keine neue Tasche bekäme. Schliesslich hatte meine Mutter ein Einsehen gehabt und wir waren am letzten Abend zuvor kurz vor Ladenschluss noch zum Sportscheck gefahren, um eine zu kaufen. Ich legte den Gurt über meine Schulter. Auch sonst war ich dieses Mal gut ausstaffiert. Von meinem Onkel, der seinen Kriegsdienst bei den Panzergrenadieren geleistet hatte, da er nur einen Meter fünfundsechzig gross war, hatte ich seinen alten Parka ergattert. Nur wer mit solchen Militärklamotten aufkreuzte, war bei den Spielen im Wald mit den Älteren auf Augenhöhe. Sie liefen alle in Oliv und Flecktarn herum, an den Gürteln Messer, in den Taschen Zippo-Feuerzeuge. Und bei Dunkelheit kamen die armdicken Maglites zum Einsatz. Die meisten hatten auch noch Springerstiefel an, doch solche hatte ich beim besten Willen nicht auftreiben können. Mein Onkel hatte keine mehr und als ich meine Eltern fragte, ob sie mir welche kauften, sagte mein Vater nur: “Du bist doch wohl bekloppt!” So mussten es meine gefütterten Winterschuhe tun. Immerhin, wenn die Hose über dem Schaft lag, konnte man auf den ersten Blick meinen, es wären Stiefel.
“Soll ich noch warten?”, fragte meine Mutter.
“Nee.”
“Na, dann, mach’s mal gut. Ich wünsche dir viel Spass! Vielleicht rufst du ja mal an zwischendurch.”
“Mal sehen.”
Sie beugte sich vor und gab mir einen Kuss.
“Ist gut jetzt!”
Ich wandte mich ab und ging auf den Parkplatz. Frau Steinecke, die wir nur “die Steinecke” nannten, stand mit einem Klemmbrett in der Hand inmitten einer Traube von Kindern und Jugendlichen. Sie hakte ab, wer da war. Die meisten kannte ich, von den letzten Fahrten, aus der Schule oder aus dem Viertel. Max und Freddi waren nirgends zu sehen. Wo sie wohl hingegangen waren? Nachdem ich mich angemeldet hatte, stellte ich mich an die Seite und hielt nach den beiden Ausschau. Max’ älterer Bruder Markus kam mit Scheuer und Bloch angetrottet. Markus trug jetzt einen Kinnbart und auch auf Scheuers Oberlippe waren jetzt Haare. Bloch hingegen hatte noch immer dasselbe glatte Schweinegesicht wie früher. Der Bus fuhr auf den Parkplatz. Er hielt direkt vor der Menschentraube. Mit einem Schnaufen öffnete sich die vordere Tür und der Fahrer, ein dicker Mann mit Bundfaltenhose und blauem Hemd, hielt sich am Geländer fest und stieg mühsam die drei Stufen herunter. Direkt kam Bewegung in die Gruppe.
“Es steigt noch keiner ein!”, rief die Steinecke.
Die Kinder drängten sich vor den Gepäckfächern, die der Fahrer mit geübtem Griff aufriss. Er machte erst gar keine Anstalten, den Ansturm aufzuhalten, und alle stopften ihre Taschen so schnell wie möglich in das mit grauem Teppich ausgeschlagene Fach. Auch ich legte meine Tasche hinein, langsam in Sorge, dass Max und Freddi gar nicht mitfuhren. Sie waren in der Grundschule zwei meiner besten Freunde gewesen. Mittlerweile gingen sie zwar auf eine andere Schule als ich und wir hatten nicht mehr viel miteinander zu tun. Doch bei der letzten Fahrt war es nach ein paar Minuten trotzdem wie früher gewesen. Aber wo waren sie nur? Wenn sie nicht mitkamen, würde die Fahrt schrecklich werden, denn mit keinem auf dem Parkplatz war ich so richtig befreundet. Ich biss in den sauren Apfel und ging zu Markus. “Kommt Max nicht?”
Er schien mich erst jetzt zu erkennen. “Die Rotznase! Bist du auch wieder da?”
Scheuer, dessen Haltung mich wie überhaupt seine ganze Art an einen Geier erinnerte, grinste, der dicke Bloch schien wie immer überhaupt nichts mitzuschneiden. Unter dem Kragen seiner Jacke lugte der dunkelblaue Marinepullover hervor, den er auch auf der letzten Fahrt Tag für Tag getragen hatte. Wir hatten uns darüber lustig gemacht und ihn Stinker genannt, bis er irgendwann auf uns losgegangen war. Max und ich hatten flüchten können, aber Freddi hatte eine ordentliche Abreibung bekommen. Bloch hatte ihn in den Schwitzkasten genommen und so lange seine Faust über seinen Kopf gerubbelt, bis Freddi geweint hatte. Und Freddi weinte eigentlich nie.
“Kommt Max nicht?”, fragte ich noch einmal.
“Was willst du?”
“Ich will wissen, ob Max nicht kommt.”
“Der muss hier irgendwo sein”, sagte Markus widerwillig. Dann drückte er mich zur Seite. “So und jetzt schieb ab!”
Die Grossen hatten sich natürlich nicht die Blösse gegeben, auf den Bus loszustürmen, und legten ihre Taschen betont langsam erst jetzt ins Fach. Da sah ich Max und Freddi durch den Zaun des Parkplatzes auf uns zugehen. Ich fühlte mich erleichtert und ging ihnen entgegen.
“Hey! Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr.”
Sie blieben nicht stehen und ich ging neben ihnen her.
“Habt ihr mich gerade im Auto nicht gesehen? Ich hab euch doch gewunken?”
“Nein”, sagte Max knapp.
Die beiden wirkten komisch, irgendwie verändert. Ich fragte mich, ob ich etwas falsch gemacht hatte. Aber was sollte das gewesen sein? Wir hatten uns doch seit der letzten Fahrt gar nicht gesehen. Wir mussten bestimmt nur erst wieder aneinander gewöhnen, sagte ich mir. Die beiden meldeten sich bei der Steineke an und Max fragte sie, wann Abfahrt wäre.
“Es fehlen noch ein paar, darum denke ich so in zehn Minuten”, sagte sie.
Der Einstieg war mittlerweile freigegeben worden und der Bus füllte sich. An der Tür stand Annette und hakte ab, wer hineinging. Sie war noch hübscher geworden. Ihre Haare trug sie jetzt offen, sodass ihr die blonden Kringellocken auf die Schultern und ins Gesicht fielen, ihre Wangen hingegen waren noch immer ein wenig gerötet. Aber am meisten gefiel mir, dass sie kein typisches Mädchen war. Sie trug Jeans mit Löchern an den Knien und schwarze Sportschuhe mit weisser Kappe, wie ich sie aus amerikanischen Filmen kannte. Von den Jungs liess sie sich nicht beeindrucken und wusste jeden dummen Spruch zu kontern. Gut, sie war ja auch schon fast erwachsen. Ich sagte ihr Hallo und sie lächelte mir zu.
“Können wir kurz die Rucksäcke reinlegen und dann noch einmal aussteigen?”, fragte Max.
Annette erlaubte es. “Aber nicht mehr weit weggehen, gleich geht es los.”
Max und Freddi gingen weit nach hinten und wählten einen der wenigen Zweiersitze, die noch frei waren. Die Reihen davor und dahinter waren schon belegt, so wie auch die Sitze auf der anderen Seite des Ganges. Ich erkannte meine missliche Lage sofort. Sofort fühlte ich mich ausgeschlossen und aus irgendeinem Grund erfasste mich deswegen Scham, so als hätte ich mir das selbst zuzuschreiben. Ich schluckte das Gefühl herunter und suchte mir einen Fensterplatz ganz vorne. Ich ärgerte mich, dass ich die ganze Fahrt neben irgendwem würde sitzen müssen, während sie hinten Spass hatten. Max und Freddi schoben sich nach vorne durch und stiegen aus. Wieder folgte ich ihnen. Sie gingen um den Bus herum und auf ein Stromhäuschen zu, das vielleicht fünfzig Meter weit weg am Rand des Parkplatzes stand. Sie gingen zügig und ich trabte neben ihnen her. “Was macht ihr?”
“Rauchen gehen”, sagte Freddi.
Die Antwort überraschte mich. “Habt ihr dafür noch Zeit?”
Die beiden wechselten einen Blick und mir schien es, als würden sie damit über mich lachen. Ich überlegte kurz, ob ich umkehren sollte, lief aber weiter mit. Mir schoss in den Sinn, dass es ziemlich leichtsinnig war, so offen vom Bus weg und über den Parkplatz zu gehen. Ich sah mich um. Der Bus verdeckte Annette und die Steinecke, aber ob uns aus dem Bus jemand von den anderen Leitern zusah, konnte ich nicht sagen. Die Scheiben waren getönt. Max und Freddi schien das alles nicht zu kümmern. Sie gingen über den Platz, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Hinter dem Häuschen zog Max eine unversehrte Schachtel Lucky Strike aus seiner Jackentasche. Bestimmt waren sie die eben noch kaufen gegangen. Er riss die Plastikverpackung auf und entfernte das Silberpapier. Dann steckte er sich mit zwei Fingern eine Zigarette in den Mund. Er gab die Schachtel Freddi. Beim Anzünden schirmten beide mit ihrer freien Hand die Flamme ab. Es sah aus, als würden sie das schon seit zwanzig Jahren machen. Freddi hielt mir die Schachtel hin.
“Nee”, sagte ich und die beiden lächelten.
Sie rauchten langsam und ich wurde nervös. “Zehn Minuten”, hatte die Steinecke gesagt. Die mussten doch langsam rum sein. Ich schob den Gedanken weg, doch er kam immer wieder.
“Wir sollten mal zurückgehen”, sagte ich schliesslich, um einen beiläufigen Ton bemüht.
“Mach dir mal nicht ins Hemd”, sagte Freddi.
Die beiden nahmen noch einmal einen tiefen Zug und warfen die Kippen dann in das Kiesbett, das das Häuschen umfriedete. Freddi schüttelte aus einem weissen Päckchen zwei Fisherman’s Friends in seine Handfläche. “Gehen wir!”
Als wir um die Ecke kamen, hörten wir den Motor des Busses starten. Sie rannten los und ich rannte ihnen hinterher.
“Wo wart ihr denn?”, fragte Annette und ich wurde schlagartig nervös. Mir kam es so vor, als wüsste sie bereits, was wir gemacht haben.
“Wir waren noch mal sicken”, sagte Max. Freddi verzog keine Miene und ich hoffte, dass man auch mir nichts ansah.
“Dann los jetzt, rein da! Ihr seid die Letzten.”
Sie stieg mit uns in den Bus und gab dem Fahrer ein Zeichen. Der drückte einen Hebel nach unten und die Tür schloss sich. Es ging los! Mich überkam ein mulmiges Gefühl und eine Menge Vorfreude.

***​

Der Bus kam zum Stehen und die Steinecke erhob sich von ihrem Platz. Sie musste mehrmals um Ruhe bitten. “So, bevor wir aussteigen! Ihr nehmt gleich eure Taschen und dann geht ihr direkt ins Haus! Die Zimmer sind im ersten Stock. Es wird noch nicht ausgepackt! Wir gehen dann erst einmal rum. Habt ihr das verstanden?”
Die Reihen raunten “Ja”.

Die Jugendherberge war ein grosses, mehrgeschossiges Fachwerkhaus mit Spitzdach. Es lag direkt am Rand eines Feldes, dahinter der Wald. Ich musste ein wenig warten, bis ich an meine Tasche kam, und ich hatte Sorge, dass mir jemand anderes zuvorkommen und zu Max und Freddi ins Zimmer gehen würde. Sobald ich meine Tasche geschultert hatte, ging ich schnell an den ins Haus strömenden Kindern vorbei, bis ich nur noch ein paar Schritte hinter Max und Freddi war. Im Zimmer warf Freddi seine Tasche in eines der beiden oberen Betten. Er zog die Schuhe aus und kletterte hoch, wo er sich an die Wand lehnte, das Kissen im Kreuz. Er legte die Beine auf die Tasche und steckte sich die Stöpsel seines Walkmans in die Ohren. Ich fragte mich, was er hörte. Max nahm das andere Hochbett in Beschlag, ich wählte das Bett unter ihm. Da auch er es sich bequem machte, tat ich es den beiden gleich. Nach ein paar Minuten klopfte es an der Tür und noch bevor einer von uns reagieren konnte, stand die Steinecke im Rahmen.
“So, wen haben wir hier im Zimmer?”
Wir richteten uns auf. Sie notierte, während sie sprach. “Da ist der Schenk Numero zwei. Und das ist der Frederick … von … Abendrot. Und du bist noch mal?”
Sie sah mich an.
“Henry Kopper.”
Es ärgerte mich, dass sie meinen Namen noch immer nicht kannte.
“Genau, der Henry. Ist sonst noch jemand hier?”
“Nein.”
“Das ist gut, dann ist ja noch ein Bett frei.”
Sie lehnte sich auf den Flur hinaus und winkte. Ein Junge in unserem Alter erschien vor der Tür und sah unsicher zu uns herein. Er war schlicht gekleidet und hatte einen wilden, braunen Lockenkopf. Sein Mund war halb geöffnet und seine Unterlippe stand vor. Die Steinecke legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn ins Zimmer.
“Das ist Sandro.”
“Sandra?”, sagte Max und Freddi lachte.
“San-dro!”, wiederholte die Steinecke mit ernster Miene. “Sandro kommt noch zu euch ins Zimmer.”
“Muss das sein?”, protestierte Max. “Können wir nicht zu dritt bleiben?”
“Nein, die anderen freien Betten sind alle bei den Kleinen.”
“Er kann doch in eines der Mädchenzimmer.”
“Ist gut jetzt, ja?” Sie zog die Brauen zusammen. “Sandro schläft bei euch und damit Schluss. Also dann, wir treffen uns in zehn Minuten unten im Essenssaal.”
Sie verliess den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Sandro blickte sich kurz um und setzte sich dann auf die Kante vom Bett mir gegenüber. Freddi liess sich über das Geländer hängen. “Warum haben dir deine Eltern einen Mädchennamen gegeben?”
Sandro sah kurz nach oben. “Was?”
“Na, du heisst doch Sandra.”
“Ich heisse Sandro.”
“Die Steinecke hat aber Sandra gesagt. Oder Max?”
“Hab ich auch so verstanden.”
“Was lügst du uns an, Sandra?”
Sandro sah erst kurz mich, dann Max an. “Ich lüge nicht. Mein Name ist Sandro, nicht Sandra.”
Freddi lehnte sich wieder an die Wand. “Lüg doch nicht! Du heisst Sandra, weil deine Eltern dich hassen. Affenkind!”
Sandro sah zu Boden und sagte nichts mehr. Er tat mir Leid.

Im Essenssaal bekamen wir eine Einweisung mit allerhand Verhaltensregeln. So durften wir etwa nur ohne Aufsicht rausgehen, wenn wir mindestens zu dritt waren. Und vom Haus durften wir uns ohne Absprache nicht mehr als Sichtweite entfernen. Solche Sachen. Nach der Versammlung gab es Abendbrot und dann ein Vorstellungsspiel, wie ich es hasste. Anschliessend stand nichts mehr auf dem Programm und wir gingen zurück ins Zimmer. Dort stiegen Max und Freddi in ihre Schuhe. Max nahm die Schachtel Luckies aus seinem Rucksack und zwinkerte mir zu. “Los, wir gehen!”
Ich wunderte mich, dass ich mitkommen sollte, dann fiel mir ein, dass wir ja nur zu dritt raus durften. Sie brauchten mich, aber mir war das recht. Alles war besser, als alleine mit Sandro auf dem Zimmer zu hocken.

Annette trug ein gelbes T-Shirt, auf dem ein Junge mit Scheitel in einem roten Superheldenkostüm abgebildet war. Auf der Brust des Jungen prangte ein klein geschriebenes E. Über und unter dem Jungen stand etwas auf Englisch, irgendwas von Maschinen. Ich wusste nicht, was das für ein Junge war und was das Ganze zu bedeuten hatte, aber die Art der Darstellung und die Tatsache, dass Annette dieses Shirt trug, sagten mir, dass es sich um etwas Cooles handeln musste. Sie kannte offensichtlich Dinge, von denen ich keinerlei Ahnung hatte, und ich fragte mich, wie ich auch Zugang zu all diesen coolen Dingen bekommen konnte. Max und Freddi kannten und wussten auch immer alle möglichen Dinge. Ich kannte oder wusste nie etwas.
Annette lächelte. “Ihr wollt euch die Gegend ansehen, oder was?”
Max hielt seine Maglite hoch. “Wir wollen unsere Taschenlampen ausprobieren.”
Sie zog eine Augenbraue nach oben. “Ah, ja …”
Wir gingen vom Haus weg. Bald herrschte totale Dunkelheit. Max knipste die Lampe an und beleuchtete den Feldweg vor uns. Wir gingen, bis das Haus zu einer in der Dunkelheit schwebenden Laterne geworden war. Bei einer Holzbank machten wir Halt und setzten uns, vor uns und hinter uns nichts als Schwarz, über uns mehr Sterne, als man sie in der Stadt jemals sah. Max zündete sich eine an. Kurz wurde sein Gesicht erhellt. Auf seiner Oberlippe war auch schon ein blonder Flaum. Er gab die Schachtel an Freddi weiter. “Schirm ab!“
Das Feuerzeug klickte ein zweites Mal.
“Jetzt haben wir diesen Spasti auf dem Zimmer”, sagte Freddi.
“Echt voll der Affe!”, sagte ich.
Max atmete hörbar aus. “Hab Rasierschaum dabei.”
Freddi lachte. “Geil!”
Ich verstand nichts. “Wozu Rasierschaum?”
“Wirste sehen”, sagte Max. “Sandra bekommt erst mal ne nette Begrüssung.”
Ich starrte ins Nichts. “Krieg ich auch eine?”
“Ne Begrüssung?”
“Nee, ne Zigarette.”
“Ich denke, du rauchst nicht?”
“Doch, aber nur manchmal”, log ich.
Max schmiss mir die Schachtel auf den Schoss. “Aber nicht paffen! Das ist Verschwendung.”
Ich presste die Lippen auf das trockene Papier. Der Tabak roch intensiv, scharf und süßlich. “Gib mal das Feuer!”
Ich sammelte mich und zog an dem Metallrädchen. Die Flamme stach nach oben und ich hielt sie an die Zigarettenspitze. Den ersten Zug nahm ich gar nicht wahr. Was war daran so besonders? Während ich den zweiten nahm, leuchtete mir Max mitten ins Gesicht. “Du paffst!”
Ich wusste nicht, was er meinte.
“Du musst den Rauch in die Lunge ziehen.”
“Mach ich doch!”
“Nein, du paffst nur. Zieh mal und dann machst du so.”
Er zog schnell Luft ein, so, als würde er sich erschrecken. Dann atmete er stossartig aus. “Papa kommt!”
Ich machte es ihm nach und atmete beim Ziehen tief ein. Der Rauch frass sich giftig in meine Lunge und ich hustete kurz, aber heftig. Jetzt begriff ich den Unterschied.
“Hhhh … Papa kommt!”, machte Max noch einmal.
Ich zog weniger stark als beim ersten Mal. “Hhhh … Papa kommt!”
Der Husten blieb aus.
“Na, also, geht doch!”
Mir wurde schwindelig, aber ich sagte nichts. Als sie noch eine rauchten, griff ich wieder zu. Max und Freddi besprachen den Angriff auf Sandro. Ich begriff nun, was sie vorhatten.

Wir gingen zurück und verbrachten noch einige Zeit mit den anderen beim Kickertisch. Dann gingen wir aufs Zimmer und löschten zeitig das Licht. Im Rest des Hauses war noch eine Zeit lang Randale, dann wurde es leise und ich konnte die gedämpfte Musik aus Freddis Walkman hören. Ab und zu knallte eine Tür und zerriss die Stille. Meine Uhr hatte keine Leuchtzeiger und so lag ich ohne Zeitgefühl herum. Bald wurde ich sehr müde und musste dagegen ankämpfen, nicht einzuschlafen. Irgendwann wurde der Wunsch zu schlafen übermächtig und die Augen fielen mir zu. Ich brauchte all meinen Willen, um sie wieder zu öffnen, und am liebsten hätte ich mich ausgeklinkt. Sollten sie doch machen, was sie wollten. So richtig wohl war mir bei dem Ganzen ohnehin nicht. Es kam mir etwas extrem vor. Ausserdem würden die Leiter bestimmt nicht begeistert sein, wenn das rauskäme. Andererseits dachte ich an die Streiche meines Vaters, von denen er mir erzählt hatte, an den angesägten Steg und die durchs Gatter gescheuchten Rinder. Dafür war er zwar ordentlich vertrimmt worden, aber zu bereuen schien er das alles nicht. Noch heute strahlte er übers ganze Gesicht, wenn er diese Geschichten auspackte. Jetzt hatte ich endlich auch mal die Chance, solche Erinnerungen zu schaffen. Wenn nur die Warterei nicht wäre. Sie kam mir endlos vor. Es mussten doch mindestens schon zwei Stunden vergangen sein, seit wir das Licht gelöscht hatten. Waren Max und Freddi etwa eingeschlafen? Ja, das musste es sein. Sie waren ganz bestimmt eingeschlafen! Jetzt war ich doch enttäuscht, dass alles in Wasser fiel. Naja, wir hatten ja noch die ganze Woche, das nachzuholen. Ich gab den Kampf auf und liess mich ebenfalls in den Schlaf fallen. Mit einem Schreck fuhr ich kurz darauf wieder hoch. Freddi rüttelte an meiner Schulter.
“Es geht los!”, flüsterte er.
Max hatte ein T-Shirt über seine Taschenlampe gelegt, sodass sie nur schwach leuchtete, gerade genug, dass wir alles im Zimmer erkannten. Wir pirschten uns an Sandros Bett heran und waren still, bis wir ihn regelmässig atmen hörten. Er schlief! Langsam ging Freddi in die Knie. Er schlug vorsichtig die Decke zurück, um Sandros Arm freizulegen. “Verdammt!”, flüsterte er.
Sandro hatte den Arm angewinkelt und die Hand auf seinem Bauch abgelegt.
“Dreee-hen”, kam es von Max.
Freddi machte eine Grimasse und fasste mit drei Fingern um Sandros Handgelenk. Ich wagte nicht mehr zu atmen. Sachte hob Freddi den Unterarm an und führte ihn auf die Seite der Matratze. Er liess los und verharrte ein paar Sekunden regungslos neben dem schlafenden Körper. Dann drehte er mit derselben Vorsicht Sandros Handfläche nach oben. Es war geschafft, der Arm war in Position. Max gab mir die Lampe. Dann beugte er sich vor und platzierte die Düse knapp über Sandros Hand. Ein Blick zu mir und zu Freddi. Der nickte. Max drückte auf den Plastikknopf und es zischte. In der Stille klang es sehr laut. Die Hand füllte sich mit dem weissen Schaum. Da schlug Sandro die Augen auf und sah uns verständnislos an. Blitzschnell packte Freddi Sandros Arm und schleuderte ihm seine eigene Hand ins Gesicht. “Das ist für dich, du Affenmensch!”
Noch bevor Sandro verstanden hatte, was soeben passiert war, lehnte sich Max in das Bett und verpasste ihm auch noch eine Ladung aus der Dose. Er liess den Knopf gar nicht mehr los und der Schaum flog überall hin, auf Sandros Locken, in seinen Kragen, auf sein Kissen. Max machte das Licht an und schlug mit Freddi ab. Dann hielt Max mir seine Hand hin und ich schlug ebenfalls ab. Die beiden lachten und ich lachte mit. Sandro sagte kein Wort. Er wischte sich nur mit der Hand den Schaum vom Gesicht. Als er aufstehen wollte, fuhr Max’ Hand nach oben. Sando zuckte zusammen und Max lachte. “Haste schon gedacht!”
Sandro, nun völlig verängstigt, blieb auf der Bettkante sitzen. Er strich den Schaum in seine andere Hand und wischte sich dann weiteren Schaum von seinem Kopf und seinem Pyjamaoberteil. Dann sah er zu uns hoch, fragend und flehend.
“Los, ich mach nichts mehr”, sagte Max.
Sandro stand auf und ging zu dem kleinen Waschbecken neben dem Fenster, um sich Gesicht und Kopf zu waschen. Auch sein Pyjamaoberteil und das Kissen reinigte er dort. Beides war hinterher durchnässt. Er rubbelte ein paar Mal mit einem Handtuch über den Pyjama, die nasse Seite des Kissens drehte er nach unten. Dann legte er sich wieder hin.
“Zieht der sich nicht mal um”, sagte Freddi und lachte.
Ich lachte auch, ohne zu wissen, warum. Ich hätte an Sandros Stelle wahrscheinlich auch nur verschwinden wollen.
“Willst du dir nicht was anderes anziehen?”, sagte Max, plötzlich in einem freundschaftlichen Ton.
“Nein”, nuschelte Sandro und zog die Decke bis unters Kinn.
Max ging neben ihm in die Hocke. “Das war doch nur ein kleiner Streich.”
“Mhm”, machte Sandro und drehte sich zur Wand.
Max rüttelte an ihm, bis er sich noch einmal umdrehte. “Was?”
“Das war nicht böse gemeint. Weisste doch, nö?”
Sandro wandte sich wieder ab. “Lass mich doch einfach!”
Max stand auf und zuckte lächelnd mit der Schulter.
“Sandra versteht keinen Spass”, sagte Freddi. “Lass ma schlafen jetzt!”

***​

Die Steinecke stand von der Frühstückstafel auf. “Alle mal herhören! Um zehn Uhr gehen wir gemeinsam in den Ort. Dort könnt ihr was einkaufen. Danach gibt es hier Mittagessen und eine Pause. Und am Nachmittag gibt es dann wieder Programm.”
“Was denn?”, rief jemand.
“Wir besuchen einen Holzbildhauer und Kettensägenkünstler. Der wird was vorführen. Wer Zwölf oder älter ist, kann dann dort noch einen kleinen Schnitzkurs machen. Die Jüngeren gehen zurück und machen hier im Haus Spiele.”

Wir standen vor den Pollern, mit denen die Fussgängerzone vom Rest des Örtchens abgegrenzt wurde. Eine der Leiterinnen nannte uns die Zeit, wann wir wieder am Treffpunkt sein sollten. Wir hatten eine gute Stunde. Ich schlenderte mit Max und Freddi über das Pflaster, links und rechts Ladenzeilen. Es gab eine Änderungsschneiderei, einen Laden mit Orientteppichen, eine Raiffeisenbank, einen Lotto-Kiosk und einen Drogeriemarkt “Scholle”, an dessen Schaufensterscheibe das gelb-schwarze Logo der Post klebte. Solche Sachen. Nach einer Weile kam ein Norma. Freddi liess einen Schwall Spucke aus seinem Mund auf den Boden tropfen. “Norma ist ranzig, gibt’s hier nichts anderes?”
“Ist doch egal”, sagte Max.
Mit vollen Plastiktüten kamen wir wieder raus, jetzt eingedeckt mit Getränken und Süsskram für die nächsten Tage. Max riss eine Packung Softcakes auf. “Wir sollten noch ne Schachtel holen. Wer weiss, wann wir wieder im Ort sind.”
Die schweren Tüten zogen heftig an den Trageschlaufen, während wir den Rest der Fussgängerzone abliefen, auf der Suche nach einem unbeobachteten Automaten.
“Scheisse, wir wären besser zuerst suchen gegangen”, ächzte ich. Trotzdem fühlte ich mich grossartig, wie ein Soldat auf einer Mission. Wenn uns entgegenkommende Leute musterten, dachte ich daran, dass sie das nicht einmal ahnten, was wir gerade taten, und dadurch fühlte ich mich ihnen überlegen. So, als würde ich ihnen heimlich richtig eins auswischen.

Schliesslich fanden wir einen Automaten. Die Fussgängerzone hatten wir da schon längst verlassen. Wir waren durch eine Einfamilienhaussiedlung gelaufen und durch einen kleinen Park mit einer hässlichen Bronzestatue und einem brackigen Entenweiher. Der Automat, sandfarben und verheissungsvoll, hing an einer Hauswand gegenüber von uns. Wir blieben in einigem Abstand stehen und sondierten die Lage.
“Besser, es geht nur einer.”
“Ja.”
“Max, du siehst am ältesten aus. Wenn jemand kommt.”
“Ok, gebt mir das Geld.” Er sah mich an. “Du gibst drei Mark, weil du bei der letzten Packung schon mitgeraucht hast.”
Ich gab ihm die Münzen. Er stellte seine Tüte ab und machte einen Schritt, dann stoppte er wieder. Eine Frau im Mantel kam um die Ecke und auf uns zu. Max liess sie passieren. Dann überquerte er mit schnellen Schritten die Strasse. Zwei Münzen verschwanden im Schlitz, die dritte nahm er wohl nicht. Max rieb sie mehrmals an der Metallverkleidung, doch der Automat wollte einfach nicht. Nervös behielt ich die Strasse im Auge. Wenn jetzt jemand kam! Und tatsächlich, drei Personen bogen um die Ecke, noch bevor Max die Packung gezogen hatte. Es waren sein Bruder mit Scheuer und Bloch. Die Drei gingen schnurstracks zum Automaten. Der hatte die Münze endlich genommen und Max zog das Fach auf. Er nahm die Packung raus und Markus nahm sie ihm ab. Freddi und ich liefen los, die Tüten liessen wir stehen.
“Gib das her, du Wichser!”
Markus hielt die Packung hoch und Max versuchte, an sie heranzukommen, doch da war nichts zu machen. Markus stiess ihn mit der freien Hand immer wieder zurück. Und als Max endlich die Abwehr durchbrochen hatte, warf Markus die Packung zu Scheuer. Max war jetzt ausser Sicht und wollte auch auf Scheuer losgehen, aber Markus nahm ihn in den Schwitzkasten. Max’ Kopf lief rot an und er schrie noch lauter. Er schlug Markus, so fest er konnte, in den Bauch, aber der lachte nur. “Abgezogen!”
Freddi und ich trauten uns nicht einzugreifen. Auch wenn die Packung zu Scheuer gewandert war, schien das weiter eine Sache unter Brüdern zu sein. Ausserdem hätten wir gegen Scheuer und Bloch ohnehin keine Chance gehabt. So standen wir nur da und sahen zu, wie Max auf seinen Bruder einschlug, dem das alles eine diabolische Freude zu bereiten schien. Markus, der auffallend markante Augenbrauen und ein kantiges Gesicht hatte, war der zweitälteste der Brüder Schenk, Max der drittälteste. Es gab noch zwei weitere, Matthias, ein blonder Hüne, der früher auch mal Leiter auf der Fahrt gewesen war, mittlerweile aber Medizin studierte, um in die Fussstapfen des Vaters zu treten, und Moritz, das Nesthäkchen, ebenfalls hellblond. Nur Markus hatte dunkle Haare, was dazu passte, dass ihm der bübische Charme der übrigen Brüder komplett abging. Nach ein, zwei Minuten hatte sich Max ausgetobt und Markus liess ihn los. Max’ Haare waren durcheinander und seine Jacke hing ihm schief auf den Schultern. Er stellte sich neben uns und akzeptierte seine Niederlage.
“Die Firma dankt”, sagte Markus und die Drei liessen uns stehen.
“Das kriegst du zurück!”, schrie Max ihnen nach.
Wir gingen zu unserem Einkauf.
“Dafür gibt es Rache!”

Beim Mittagessen sahen Markus und Scheuer anfangs mehrmals zu unserem Tisch rüber. Sie machten Rauchgesten und lachten. Bloch hingegen schien sich nur für den gräulichen Hackbraten zu interessieren, den sie uns vorgesetzt hatten. Max zeigte ihnen den Finger, wenn die Steinecke nicht hinsah. Annette und die anderen Leiter konnten das ruhig mitkriegen. Die waren ja selbst nicht so viel älter als wir und nervten uns darum auch nicht mit unnötigen Ermahnungen. Allerdings schien Annette zu merken, dass irgendwas nicht stimmte, denn sie sah uns fragend an, als ihr der stille Kampf zwischen den Tischen auffiel.
“Ist irgendwas los?”, fragte sie uns nach dem Essen, aber wir wiegelten ab.

Bei dem Schnitzkurs nach der Kettensägenshow, die langweiliger war, als wir uns im Vorfeld ausgemalt hatten, ging der Kampf weiter. Freddi und ich beteiligten uns jetzt auch, aber mehr als Stinkefinger zu zeigen und ein paar Schimpfworte zu schleudern, fiel uns auch nicht ein. Wir standen an abgewetzten Werkbänken in einer kalten Scheune und schnitzten an den weichen Holzstücken herum, die uns der Künstlerheini gegeben hatte. Seine Einweisung hatte sich auf Tipps beschränkt, wie immer vom Körper wegzuschnitzen, was wir nun auch vorher schon gewusst hatten. Ich versuchte mich an einem Wolf, aber so aus dem Kopf wurde das nichts, und weil ich keine Lust hatte, noch einmal etwas Neues anzufangen, guckte ich die meiste Zeit im Raum herum. Der Künstler ging die einzelnen Bänke ab und gab jetzt doch ein paar Tipps, wenn ihn jemand etwas fragte. Annette und eine weitere Leiterin schnitzten mit. Alle ausser mir waren in ihre Arbeiten vertieft und so sah nur ich, dass Scheuer an irgendwas arbeitete, was niemand sehen sollte. Mehr konnte ich nicht erkennen. Als der Kurs vorbei war, zeigten alle in der Runde ihre Machwerke, und Scheuer hielt einen grob geschnitzten Vogel hoch. Passt zu dem Geier, dachte ich mir, aber das hatte er bestimmt nicht verheimlicht. Auf dem Rückweg enthüllte er dann sein wahres Werk und zog einen Holzpimmel aus der Innentasche seiner Armeejacke. Markus und Bloch besickten sich und alle fuchtelten mal mit dem Ding rum und machten anzügliche Gesten. Irgendwann bekam Annette mit, was hinter ihr getrieben wurde.
“Na, brauchst du schon Ersatz?”, sagte sie trocken und Scheuer wusste darauf nichts Cleveres zu erwidern. Ich triumphierte innerlich.

Sandro war nicht mit zum Kurs gegangen und abends zogen wir ihn damit auf, nannten ihn kleines Mädchen und Tunte. Unser Ton wurde immer rauer, auch ich beleidigte ihn jetzt offen mit. Er tat mir irgendwie jetzt weniger leid, zumindest, bis sich die Dinge hochschaukelten. Vor allem Freddi redete sich in einen regelrechten Hass auf Sandro hinein. Er nannte ihn bald nicht mehr “Sandra” und auch nicht mehr “Affe”, sondern schrie ihm ins Gesicht, er sei behindert, ein Spasti und ein Hurensohn und seine Eltern hätten ihn nicht gewollt, er wäre ein Unfall gewesen und hätten seinen Eltern das Leben versaut. Ich fand, das ging zu weit, aber ich sagte nichts, auch nicht, als Freddi ihm in den Schuh spuckte. Das geschah ohne Anlass. Er beugte sich irgendwann einfach so über das Bettgeländer, zog Rotz hoch und liess die Rotze dann über seine Zunge in Sandros Schuh laufen, der vor dem Bett stand. Sandro sprang auf, um den Schuh wegzuziehen, da schwang sich Freddi vom Bett, schubste Sandro gegen die Leiter und schlug auf ihn ein. Es war, als hätte Freddi schon darauf gelauert. Sandro wimmerte unter den Schlägen und selbst Max fand das zu krass. Er zog Freddi irgendwann zurück. Wir alle wussten nicht so recht, wie mit der Situation umgehen. Freddi regte sich so über Sandro auf, dass man meinen konnte, der hätte ihm etwas getan. Und auch Max redete mit Freddi, als hätte dieser Recht, aber müsste jetzt einfach mal eine Fünf gerade sein lassen. Ich lehnte mich in meinem Bett zurück und hielt den Kopf unten. Auf keinen Fall wollte ich Freddis freidrehende Wut auf mich ziehen. Sandro rannte raus.
“Hoffentlich petzt der nicht”, sagte ich.
“Soll er doch!”, sagte Freddi.
Ab da hielt sich Sandro praktisch gar nicht mehr mit uns im Zimmer auf. Er kam nur noch zum Schlafen zurück. “Gut, dass wir den los sind”, meinte Freddi später dazu, und ich war auch froh darum. Wer weiss, was sonst noch passiert wäre.

Der Racheplan gegen Markus, Scheuer und Bloch war bald geschmiedet. Max wusste, dass sein Bruder ein Päckchen Gras dabeihatte, was mir unfassbar verboten schien. Darum mutmasste ich, dass er ihn bei den Leitern verpetzen wollte. Aber Max hatte etwas anderes im Sinn. Er wollte das Päckchen klauen und den Inhalt dann genüsslich vor den Augen von Markus und den anderen beiden vernichten, falls sich eine Gelegenheit dazu ergab. Ich hielt das für keine gute Idee, denn ich malte mir den Zorn aus, der darauf folgen würde, aber Max wischte alle Bedenken weg. “Da scheiss ich drauf! Der kann mir gar nichts, sonst geh ich zu unseren Eltern und erzähle alles.”
Das leuchtete mir ein und wir überlegten, wie wir an das Gras kommen konnten. Nach einigem Hin und Her entschieden wir, dass wir wieder nachts agieren mussten.

Dieses Mal warteten wir bis weit nach Mitternacht, ohne uns hinzulegen. Die Zeit vertrieben wir uns mit Kartenspielen und Reden. Zwei Mal rauchten wir eine am Fenster. Ob das Licht und unser Lärm Sandro störten, war uns egal. Und natürlich sagte er auch nichts. Unter seiner Decke verkrochen, machte er stundenlang keinen Mucks. Es musste Drei oder später gewesen sein, als wir die Tür zum Flur öffneten und hinausschlichen. Vor dem Zimmer der drei Grossen hielten wir inne und lauschten. Alles war still. Ganz langsam drückte Max die Klinke herunter und die Tür auf. Ein Glück quietschte sie nicht. Wir hatten entschieden, dass er am besten alleine ins Zimmer ging, und wir legten ihm noch einmal die Hand auf die Schulter, um ihm Mut zu machen. Er verschwand in dem dunklen Raum und schloss hinter sich die Tür bis auf einen kleinen Spalt, damit möglichst wenig Nachtlicht vom Flur ins Zimmer fiel. Die Idee, wieder die Taschenlampe abzudecken, hatten wir verworfen. Zu gefährlich, es konnte ja immer zufällig jemand kurz die Augen aufmachen. Ein paar Mal hörte ich etwas rascheln und ich spannte meine Muskeln an, um für einen Spurt bereit zu sein. Aber nichts geschah. Dann tauchte Max wieder auf. Er drückte sich zwischen Tür und Rahmen durch und schwenkte lächelnd das Päckchen.
“Musste voll lange suchen”, flüsterte er. “War in der Seite von der Hose.”

***​

Am nächsten Tag stand die grosse Schnitzeljagd an. Vier verschiedene Teams begaben sich dafür auf eine mehrere Abschnitte umfassende Wanderung. Das nächste Ziel musste man anhand von Rätseln und Hinweisen selbst ermitteln, wobei die Leiter wirklich gar nicht mithalfen und im Zweifel Kilometer weit mit in die falsche Richtung marschierten. Es war der anstrengendste Tag der ganzen Fahrt, wir bekamen Lunchpakete und liefen mindestens zwanzig Kilometer über Feldwege, Landstrassen und durch Ortschaften. Am Ende wurden nicht die Gewinner bewundert, sondern die, die am längsten und am weitesten gelaufen waren. Manchmal kamen Gruppen erst nach dem Abendessen zurück, wenn es längst dunkel war. Diese Gruppe wurde dann begrüsst wie lange verschollene Entdecker, die von ihrer Odyssee ein Bündel an Abenteuern heimbrachten. Anders als bei den meisten Spielen dürften wir uns am Wandertag nicht aussuchen, mit wem wir zusammen gingen. Ich hatte doppelt Glück und kam in dieselbe Gruppe wie Max, die auch noch von Annette begleitet wurde. Von den Grossen waren nur zwei dabei, ein pickeliger Spargeltarzan mit Brille und Scheuer, der fluchte, weil Markus und Bloch zusammen in eine andere Gruppe kamen. In die wurde auch Freddi gesteckt, und als wäre das nicht schon schlimm genug, fand sich darin auch noch Sandro wieder. Freddi versuchte seinen Platz zu tauschen, aber die Steinecke, die selbst gar nicht mitging, war nicht weichzuklopfen.

Es war ein diesiger, feuchter Tag und wir liefen lange bis zum ersten Ziel, eine kleine Kapelle neben einem Feldweg. Wir waren richtig und das dortige Rätsel meinten wir bald gelöst zu haben. Und so ging es weiter, durch ein Waldstück in den Ort, wo wir eingekauft hatten. Dort war irgendwo eine Filiale der Heilsarmee sein, hofften wir. Während wir durch den Wald liefen, fuchtelte Scheuer wieder mit dem Holzpimmel rum. Er wollte den Pickelkopf zum Lachen bringen, aber der verstand den Humor nicht. Griesgrämig steckte Scheuer den Pimmel wieder ein und ging von nun an schweigend und mit hängenden Schultern hinter der Gruppe her. Wir lagen wieder richtig, es gab im Ort die Heilsarmee. Unter dem Briefkasten klebte der nächste Umschlag für uns. Es war nun schon Mittag und auf einer Mauer sitzend machten wir hungrig unsere Lunchpakete auf.
“Esst nicht alles”, sagte Annette. “Der Tag ist noch lang.”
Damit hatte sie recht und die paar Neuen in der Gruppe waren arm dran, denn sie hatten nicht selbst noch Proviant mitgenommen. Max und ich hatten diesen Fehler als alte Hasen natürlich nicht gemacht und so konnten wir guten Gewissens das Brot und das Corny essen, dazwischen ein paar kräftige Züge aus dem Trinkpäckchen. Und noch bevor wir das nächste Ziel erreichten, musste der Apfel dran glauben. Das gute Zeug kam ja alles noch.

Der Weg führte uns kurz eine Bundesstrasse entlang und dann bogen wir wieder auf einen Feldweg ein. Es ging bergauf und als wir auf dem Hügel standen, konnten wir die ganze Gegend überblicken. Wieder im Tal erreichten wir irgendwann einen Fluss. Er war nicht besonders breit, aber breit genug, sodass man nicht darüber springen konnte. Es nützte nichts, wir mussten am Ufer entlanglaufen, bis wir eine Brücke fanden. So langsam war die Luft raus und es begann, anstrengend zu werden. Der Gedanke, dass wir noch Stunden unterwegs sein würden, war wie eine lästige Fliege. Ich wischte sie weg. Das Highlight der Wanderung kam ja noch. Als wir auf der Brücke standen, war es so weit. Die Gruppe ging weiter, aber Max und ich blieben stehen.
“Hey Scheuer!”, rief Max.
Scheuer drehte sich beim Gehen um und sah uns mit missmutiger Miene an.
“Komm noch mal zurück, wir wollen dir was zeigen.”
Er blieb stehen, irritiert, aber neugierig geworden.
“Was wollt ihr Scheisser?”
“Komm mal her. Siehst du dann.”
Er zögerte, dann kam er zurück zur Brücke. Als er nur noch ein paar Schritte von uns entfernt war, hielt Max das Päckchen hoch. “Guck mal, was wir hier Feines haben!”
In Scheuer arbeitete es.
“Gib das her!”, presste er schliesslich heraus.
“Willst du das haben? Dann hol es dir.”
Scheuer witterte die Falle. Natürlich witterte er sie. Aber was sollte er tun? Er machte einen Schritt auf uns zu und Max warf das Päckchen in den Fluss. “Keine Macht den Drogen!”
Langsam, aber unerreichbar trieb es davon.
“Ihr seid solche … Hurensöhne! Wisst ihr, was das gekostet hat?”
Wir lachten. Scheuer sah sich um. Die Gruppe war mittlerweile ein gutes Stück weg. “Dafür töten wir euch! Ihr seid tot!”
Max machte einen Kussmund. Scheuer täuschte an, auf uns loszugehen, bemerkte aber selbst, dass ihm vorerst die Hände gebunden waren. Wir waren zu zweit und Annette war nur einen Schrei entfernt. Er stapfte davon. Wir folgten ihm mit genügend Abstand. Er sah sich noch einmal um. “Tot!”

Wir kamen nur einige Minuten nach der Gewinnergruppe wieder bei der Jugendherberge an. Platz drei brauchte etwa eine halbe Stunde länger. Als letzte kam die Gruppe von Freddi zurück. Wütend schmiss er seinen Rucksack in die Zimmerecke. “Boah, war das ein scheiss Tag!”
Sandro kam mit gesenktem Blick ins Zimmer, legte seine Sachen ab und verschwand wieder.
“Wir sind drei Mal hin und her gegangen, nur weil den Bruder blind ist”, erzählte Freddi.
Das brachte ihn auf einen Gedanken. “Was ist jetzt überhaupt? Habt ihr es weggeschmissen?”
“Ja.”
“Und? Wie hat er reagiert?”
“Was glaubst du?”
“Ha!”

Beim Abendessen waren Markus und Bloch natürlich schon eingeweiht worden. Der spöttische Zug war aus Markus’ und Scheuers Gesichtern verschwunden. Wenn sie zu uns herüberschauten, dann bohrten sich ihre Blicke starr in uns hinein. Selbst der phlegmatische Bloch schien wütend. Wir hatten sie wirklich getroffen. Ich stiess Max an. “Was glaubst du, wie viel das wert war?”
“Keine Ahnung.”
“Das war doch schon viel, oder? Also viel …”, ich sprach das letzte Wort noch einmal leiser aus, “Zeug?”
Er zuckte die Schultern.
“Du, ich glaub echt, das war richtig teuer.”
Er spiesste ein Stück Gurke auf und führte die Gabel zum Mund. “Selber schuld, die haben doch angefangen …”

Nachdem wir unsere Teller auf dem Metallwagen neben der Schwingtür zur Küche abgeladen hatten, blieben wir unschlüssig stehen. Ohne dass wir darüber geredet hatten, wussten wir, dass wir nun aufpassen mussten. Am besten bewegten wir uns ab sofort auch im Haus nur noch zu dritt. Ich lugte um die Ecke. “Die Luft ist rein, glaube ich.”
Wir gingen zügig über den Flur und die Treppe hoch. Sie waren nirgends zu sehen. Im Zimmer stellte Freddi einen Stuhl unter die Klinke. “Zur Sicherheit.”
Den Rest des Abends gingen wir nicht mehr lange aus dem Raum. Wenn jemand aufs Klo musste, wurde der Stuhl kurz weggenommen und direkt wieder unter die Klinke gestellt, wenn die Person den Raum verlassen hatte. Ich wusste nicht, wie die anderen vorgingen, aber ich rannte zu den Waschräumen. Dort verschwand ich direkt in einer Kabine und schloss ab. Und wenn ich anschliessend vor der Zimmertür darauf wartete, dass jemand drinnen den Stuhl wegnahm, schoss mir ein Kribbeln den Nacken hoch. Das Ganze war aufregend, machte aber auch Spass. So richtig Angst hatte ich nicht.

***​

Die Nacht blieb ruhig und am Morgen waren wir schon entspannter. Markus und die anderen beiden waren dazu übergegangen, uns zu ignorieren. Vielleicht hatten wir sie wirklich ruhig gestellt mit unserem Gegenschlag. So was hatten sie bestimmt nicht im Traum erwartet und jetzt wussten sie, mit uns war auch zu rechnen.

Vormittags gingen wir noch einmal in den Ort, wo wir eine neue Packung Luckies kauften. Dieses Mal gingen wir einfach zu dritt zum Automaten und zogen sie uns. Die erste Packung rauchten wir im Anschluss in dem Park fertig. Ich war bester Laune, denn am Nachmittag stand der Höhepunkt der ganzen Fahrt an. Für mich jedenfalls.

Wir zogen unsere Tarnklamotten an und gingen zum Waldrand. Dort bildeten wir einen grossen Halbkreis um Annette und die anderen Leiter herum. Annette sprach laut und klar, um alles nach Möglichkeit nur einmal sagen zu müssen.
“Alle herhören! Also, das Spiel heisst Ölbohren, die meisten kennen es ja schon. Es gibt zwei Teams, Team Rot und Team Blau, und es geht darum, den Bohrturm des anderen Teams zu finden. So sieht der aus.”
Sie hielt eine Coladose hoch, in der drei Stöckchen steckten. Sie drehte die Dose um und fummelte an den Stöckchen herum, bis diese auseinander standen wie die Beine eines Stativs. “Ihr könnt es euch vorstellen, oder? Die Stöcke stecken später im Boden, dann hält das Ganze auch. Wir”, sie zeigte auf die Leiter neben ihr, “teilen uns gleich auf. Zwei von uns bleiben hier. Das ist die Hauptstation. Und zwei gehen mit jedem Team mit, um irgendwo den Bohrturm zu verstecken.”
Sie liess den Blick durch die Reihe schweifen und sprach weiter. “Von den Bohrtürmen zur Hauptstation werden Öltransporte durchgeführt. Dafür bekommen die Trupps beim Bohrturm einen Tischtennisball mit so einem Aufkleber.”
Sie liess die Dose in der weiten Tasche ihres Parkas verschwinden und zog einen weissen Ball sowie zwei Streifen mit runden Aufklebern heraus, die einen orange, die anderen gelb. “Wenn es der Transport bis hierhin zur Station geschafft hat, wird der Aufkleber abgezogen und es gibt drei Punkte für das Team. Der Trupp läuft dann zurück zum Bohrturm und holt sich einen neuen Aufkleber. Bis hierhin alles klar?”
“Wie finden wir den Bohrturm denn wieder?”
“Indem ihr euch den Weg merkt.”
“Wie soll das denn gehen?”
“Das ist euer Problem. So, weiter im Text! Damit die Teams auseinandergehalten werden können, bekommt gleich jeder von euch so ein Wollbändchen um den Arm.” Die Leiterin neben Annette zeigte uns zwei Wollknäuel, ein rotes und ein blaues. “Wenn ihr auf einen Trupp von einem anderen Team trefft, dürft ihr die Bändchen der anderen abreissen. Aber nicht übertreiben, wir wollen keine Verletzten und keine Toten!”
Fast alle Jungs grinsten, die Vorfreude stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Wahrscheinlich auch mir.
“Für jedes abgerissene Bändchen gibt es am Ende einen Punkt. Wer kein Bändchen mehr hat, darf erst wieder mitspielen, wenn er sich beim Bohrturm oder bei der Hauptstation ein neues geholt hat. Wenn einem Öltransport das Bändchen abgerissen wurde, muss der Aufkleber rausgerückt werden. Für jeden ergatterten Aufkleber gibt es drei Punkte.”
Ich konnte kaum noch zuhören. Die Jagd sollte endlich beginnen. Der Öltransport interessiert keinen, es ging nur darum, möglichst viele Kämpfe auszufechten. Es war üblich, sich die geklauten Bändchen irgendwo an die Jacke zu binden. Das waren unsere Trophäen, Skalpe, die den Gegnern zeigten, wie gut wir uns im Kampf bewährt hatten. War einem selbst das Bändchen abgerissen worden, fühlte sich das wie eine Kastration an, vor allem, wenn man der einzige in seinem Trupp war, den dieses Schicksal ereilte. Der Gang zur Station, um sich ein neues Bändchen zu holen, war immer ein Gang der Schmach, und wenn man wirklich Pech hatte, fand man seine Leute hinterher nicht mehr wieder und musste sich fortan allein im Wald durchschlagen, den feindlichen Trupps so gut wie hilflos ausgeliefert.
Annette atmete aus und wandte sich an die Leiterin mit den Wollknäueln. “Hab ich was vergessen?”
Die flüsterte etwas.
“Ach, ja. Das Spiel endet sofort, wenn ein Bohrturm gefunden wurde. Dafür gibt es dann fünf Punkte. Fragen?”
Keiner meldete sich.
“Gut, ihr könnt sonst natürlich jederzeit auf uns Leiter zugehen. Hier bei der Hauptstation haben wir ausserdem heissen Tee und Snacks. Die könnt ihr euch jederzeit abholen kommen. So, dann teilen wir jetzt die Teams ein.”

“Erst mal eine rauchen.” Max hielt uns auf einer Lichtung die Schachtel hin. An den Knöpfen unserer Brusttaschen baumelten die ersten roten Bändchen, die wir einem Trupp Kleiner abgenommen hatten. Ansonsten waren wir bisher niemandem begegnet. Das Spiel fand immer in ausgedehnten Waldstücken statt, sodass man andere Trupps regelrecht aufspüren musste, um ihnen im Anschluss nachzustellen – sofern es nicht man selbst war, dem nachgestellt wurde. Manchmal begegnete man eine halbe Stunde lang niemandem. Ich liebte dieses Spiel einfach! Es war perfekt konstruiert und von einer Spannung, die üblichen Kinderspielen abging. Wo sonst musste man sich als Soldat in Tarnkleidung mit seinen Kameraden durch einen dichten Wald schlagen und mit anderen im Wortsinne um den Sieg kämpfen?

Wir steckten die abgerauchten Kippen ins Moos und gingen weiter. Es war nicht leicht, sich zu orientieren, und wir liefen einfach auf gut Glück durch die Gegend, immer wieder innehaltend und lauschend, ob wir einen anderen Trupp hörten. Plötzlich zischte Max, “Stopp!”
Er hielt mir die Hand vor die Brust. “Runter!”
Wir gingen sofort in die Knie.
“Da ist Bloch!”
Ich kniff die Augen zusammen und suchte den Wald ab. Tatsächlich. Zwischen den Stämmen einer Baumgruppe liess sich schemenhaft eine füllige Person erkennen. Unverkennbar Bloch.
“Los, langsam!”
Wir schlichen gebückt auf ihn zu. Als wir ihm ein wenig nähergekommen waren, erkannten wir, dass er auf einem Weg stand. Wir machten Halt.
“Auf drei rennen wir los!”, flüsterte Max.

“Drei!”
Bloch zuckte zusammen und wandte sich um. Dann rannte er los. Da wir noch ein Stück weit durchs Unterholz mussten, lief er auf dem Weg einen noch grösseren Vorsprung heraus. Schreiend rannten wir ihm hinterher. Bei einer Weggabelung lief er nach rechts und schlug sich dann linker Hand in den Wald. Ich folgte ihm und hörte nur noch, wie Max rief, “Wir schneiden ihm den Weg ab!”
Wie sich zeigte, war das Waldstück zwischen den beiden Wegen doch grösser, als es den Anschein gehabt hatte. Von Max und Freddi war nichts mehr zu sehen und ich wurde zu Blochs einzigem Verfolger. Er pflügte durch den Wald, es knackte und raschelte. Ich jagte hinter ihm her, sprang über Wurzeln und Baumstümpfe, wich Zweigen aus. Wir drangen immer tiefer in den Wald vor und ich kam ihm immer näher. Nur noch zwanzig Schritte Tritte trennten uns, als er plötzlich neben einer Tannenschonung stehenblieb und sich umdrehte. Ich verlangsamte meinen Lauf. Die letzten Meter ging ich. Hellwach, ganz im Moment. Blochs Kopf dampfte und seine Wangen waren rot. Er schnaufte. Mein Blick wechselte zwischen seinen Augen und dem roten Bändchen an seinem Oberarm hin und her. Ich wollte es unbedingt haben. Wenn ich alleine gegen einen Älteren gewann, war ich ein Held. Ich musste es einfach riskieren! Bloch nahm keine Abwehrhaltung ein, er stand nur da und sah mich an. Je näher ich ihm kam, desto schneller schlug mein Herz. Ich hob die Hände vor die Brust und lauerte darauf, dass er eine plötzliche Bewegung machte. Doch er rührte sich noch immer nicht. Dann lächelte er. Reflexartig musste auch ich lächeln. Dort, zu zweit alleine im Wald, durchbrachen wir unsere Rollen. Ich legte mir Worte zurecht, um ihn anzusprechen, ihm etwas Kameradschaftliches zu sagen. So ein schlechter Kerl war er vermutlich gar nicht. Da wackelten die kleinen Tannen neben mir. Ich erschrak und noch bevor ich den Kopf drehen konnte, wurde ich zu Boden gerungen. Etwas Hartes bohrte sich mir ins Kreuz und jemand drückte mein Gesicht auf den Boden. Nadeln stachen mir in die Wange und der modrige Geruch von Erde und Moss stieg mir in die Nase.
“Die Rotznase!”
“Lasst mich los!”
“Schnauze!” Markus verstärkte den Druck. Es mussten seine Knie sein.
“Au! Übertreib mal nicht!”
“Schnauze, hab ich gesagt!”
Wut stieg in mir auf. Ich presste meine Hände in die Nadeln und wandte mit einem Ruck meinen Oberkörper zur Seite. Eines seiner Knie schrammte mir hart über das Schulterblatt. Ich dachte schon, ich hätte mich befreit, doch er fixierte mich sofort wieder. Er packte meine Handgelenke und drehte meine Arme nach hinten. “Die Ratte zappelt ganz schön rum!”
“Lasst mich los, ihr Spinner!”, schrie ich und riss so fest an seinem Griff, dass ich meinte, gleich würden mir die Schultern zerspringen. Aber es war nichts zu machen. Er war zu stark. Erschöpft liess ich den Kopf sinken. Dann schmeckte ich Stoff und bekam keine Luft mehr. In Panik zog ich Luft in die Nase. Ich wollte protestieren, das ging doch zu weit, wollte sie anflehen, mich freizulassen, aber ich brachte nur noch ein Ächzen hervor. Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Ich versuchte dagegen anzukämpfen, sagte mir, dass ich nicht so ein Schisser sein sollte. Gleich würde er mich ja wieder loslassen. Sich jetzt keine Blösse geben! Ich hatte so etwas doch schon erlebt. Man musste einfach still sein und den Schmerz ertragen, bis es vorbei war. Und dann so tun, als hätte es einem alles gar nichts ausgemacht, sonst war man auf ewig die kleine Heulsuse, die Schwuchtel, die geweint hat. Ich schloss die Augen und versuchte, ruhiger zu atmen, die Luft langsamer und tiefer in meinen zusammengequetschen Brustkorb zu ziehen.
“Mach!”
Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, wer was machen sollte, setzte sich jemand auf meine Kniekehlen und riss an meiner Hose. Ich spürte die kalte Luft und dann etwas Hartes. Reflexartig spannte ich jeden Muskel an und sammelte noch einmal alle meine Kräfte. Ich schnaufte wie ein Pferd und presste und riss, doch ich kam nicht gegen sie an. Irgendwann ging mir die Kraft ganz aus und ich spürte einen heftigen, stechenden Schmerz. Ich jaulte auf.
“Das ist die Rache!”, sagte Markus und ich hörte, wie die anderen beiden lachten. Der Schmerz war grässlich, wurde nicht schwächer, sondern immer stärker, ich spürte die Tränen laufen.
“Davon erzählst du niemandem, klar?” Markus sprach mir leise direkt ins Ohr. “Hast du verstanden? Niemandem! Sonst war das nur ein Vorgeschmack!”
Er zog an meinen Haaren.
“Ist das klar?”
Ich nickte.
“Lass ihn drin!”, sagte Scheuer.
Ich spürte, wie das Bändchen an meinem Arm abgerissen wurde.
“Also los!”, sagte Markus.
Der Druck wurde von meinen Beinen und meinem Rücken genommen. Ich hörte sie wegrennen und nahm das Knäuel aus meinem Mund, eine olivgrüne Socke. Langsam tastete ich meine Rückseite ab. Der Gegenstand war glatt und hart. Ich zog ihn so behutsam heraus, wie ich konnte, doch es brannte trotzdem wie Feuer. Es war der Holzpimmel von Scheuer. Gott sei Dank, war er nicht blutig, dachte ich. Es konnte nicht so schlimm sein, wie es sich anfühlte. Ich stemmte mich hoch und zog meine Hose hoch. Mit dem Ärmel wischte ich mir die Tränen ab. Der Schmerz wurde kaum schwächer. Ich schleuderte den Pimmel in die Schonung und atmete durch. Es war still, nur ein leises Knacken war zu hören. Es kam von oben, von den Tannen, die der Wind hin und her bewegte. Es hörte sich an, als würde das Holz brechen.

An der Kante einer langgezogenen Senke machte ich Halt. Ich hatte keine Ahnung, wo Max und Freddi waren, und ich entschied, dass es das Klügste wäre, ein wenig dort an dieser höher gelegenen Stelle zu warten. Vielleicht hatte ich Glück und sie würden unten in der Gasse vorbeikommen. Ich betastete erneut meinen Hosenboden, so als würde mir das einen Hinweis auf Verletzungen geben. Es tat noch immer weh und ich hatte Angst mich hinzusetzen. Also brach ich ein paar dünne Äste von einem Nadelbaum ab und lehnte mich gegen den schuppigen Stamm. Niemand durfte davon erfahren. Niemals! Ich hoffte, dass es nicht doch blutete. In der Herberge musste ich irgendwie nachsehen. Gedämpft durch das Blattwerk drangen von weit her Rufe zu mir herüber. Irgendwer hatte noch Spass an dem Spiel. Ich wartete noch vielleicht zehn Minuten, dann stieg ich vorsichtig den Hang hinunter. Ohne Grund wandte ich mich nach rechts und stapfte allein durch den Wald, auf der Suche nach dem Ausgang. Ich betete dafür, dass Scheuer und die anderen ihre Fressen hielten.

Wenn ich Trupps hörte, ging ich in die Hocke oder stellte mich hinter einen Baum. Ohne das Bändchen war ich zwar eh ein Zombie, aber ich wollte nicht mal jemandem Hallo sagen. Ich wollte nur nach Hause. Aber das ging nicht. Was für einen Grund sollte ich dafür haben? Nach einer Ewigkeit fand ich den Waldrand und erkannte einen Hochsitz wieder. Jetzt wusste ich, wo die Hauptstation war. Ich ging langsam über einen Traktorenweg, der zwischen Waldrand und Feld durchlief. Die Fahrspuren waren durchfurcht von tiefen Reifenspuren, der Mittelstreifen war mit hohem Gras bewachsen, dadurch war das Gehen mühsam. Immer wieder knickte ich um, aber als ich auf der Kante des Feldes lief, war das auch nicht besser.
“Hallo Henry!” Annette sah mich freundlich an. “Hat es dich erwischt?”
Ich sah auf meinen Ärmel. “Ja.”
“Blau oder rot?”
“Blau. Aber ich glaube, ich spiel nicht mehr mit. Oder wie lange spielen wir noch?”
“Du, das weiss ich nicht. Bis ein Turm gefunden wurde.”
“Muss ich wieder mitspielen?”
“Nein, natürlich nicht. Du kannst auch einfach hier mit uns warten. Komm, wir machen dir Platz.”
Annette und die andere Leiterin sassen auf einer dicken Decke und rückten zusammen. Ich zögerte kurz, dann setzte ich mich vorsichtig neben sie. Es war ok, tat nicht mehr weh als im Stehen. Annette reichte mir einen dampfenden Papierbecher “Hier, nimm einen Tee, sonst kühlst du sofort aus. Aber Vorsicht, ist heiss!”
Ich zog die Ärmel über die Hände und fasste um den Becher. Der Tee tat gut und als irgendwann im Wald eine Trillerpfeife ertönte, wurde ich traurig. Ich wäre gerne einfach dort neben Annette sitzen geblieben und nie mehr aufgestanden. Kurz darauf kamen die Trupps zu uns an die Station.
“Wo warst du denn?”, fragte Freddi.
“Mich hat es erwischt.”

Beim Abendessen sahen mich Markus und die anderen nicht an. Ich sah auch nur ein paar Mal ganz kurz zu ihnen rüber, ansonsten starrte ich auf meinen leeren Teller. Ich hatte keinen Appetit und nur eine halbe Scheibe Brot mit Frischkäse gegessen, damit niemand Fragen stellte. Nach dem Essen gingen alle hoch in den zweiten Stock in den grossen Aufenthaltsraum, um Schrubber-Hockey zu spielen. Ich blieb unten, im Raum mit dem Kicker, wo ich sinnlos an den Stangen drehte. Plötzlich stand die Steinecke in der Tür. “Was machst du denn alleine hier unten? Oben wird gespielt.”
“Ich setze aus.”
“Gibt es dafür einen Grund?”
Ich überlegte, aber mir fiel nichts ein. “Nee, nicht richtig.”
“Fühlst du dich krank?”, fragte sie, ihre Stimme nun etwas weicher.
“Nein.”
Aber das war direkt wieder vorbei. “Na, dann spielst du natürlich auch mit!”
“Muss ich wirklich? Ich will nicht.”
Sie guckte streng. “Extrawürste gibt’s hier nicht! Manche Spiele machen mehr Spass, manche weniger. So ist das eben. Los!”
“Aber die haben doch jetzt auch schon angefangen.”
“Die werden dich schon noch unterbringen. Also los, Abmarsch jetze!”

Als ich in den Raum kam, war gerade ein Duell im vollen Gange. Bloch und Scheuer standen sich gegenüber, jeder mit seinem Schrubber in den Händen. Scheuer presste seinen auf den Lappen und Bloch lauerte auf den Angriff auf sein Tor, das aus einem Stuhl am Ende des Spielfeldes bestand. Scheuer lachte und machte einen Ausfallschritt, dann nahm er den Schrubber in eine Hand und führte den Lappen zwischen seinen Beinen hin und her, so als würde er kunstvoll einen Basketball dribbeln. Die ganze Meute grölte und Bloch sah dem Theater ratlos zu, denn es war klar, dass Scheuer der Agilere war und ihn gerade vorführte. Annette winkte mir zu und zeigte auf einen leeren Stuhl in der Reihe auf ihrer Seite. Dann hielt sie sieben Finger hoch. Ich verstand und nickte. Von meinem Platz aus sah ich zu, wie Scheuer den auf ihn stürzenden Bloch austanzte und anschliessend betont langsam den Lappen zwischen die Stuhlbeine schob. Ich zählte die Reihe gegenüber ab. Mein Gegenspieler war Sandro. Immerhin ein leichter Gegner, dachte ich, Hauptsache das alles ging schnell vorbei. Ich mochte dieses Spiel überhaupt nicht, weil man so plötzlich alleine in die Mitte musste und einem alle dabei zusahen, wie man sich anstellte. Meistens kam man nur einmal dran und gewann man sein Duell nicht, war das eine Blamage, die man nicht mehr tilgen konnte.

“Sieben!”
Ich erreichte den Lappen vor Sandro und presste meinen Besen darauf, um ihn zu sichern, bis ich wusste, wie mein Angriff aussehen sollte. Er wich ein paar Schritte zurück und ging in Abwehrhaltung. Ich war mir all der Blicke nur allzu bewusst. Der ganze Raum sah nur auf mich und meinen Besen. Der Moment schien nicht zu enden, ich musste irgendetwas machen. Da kam mir eine Idee. Ich stach rechts an Sandro vorbei, direkt auf die Stuhlreihe mit den Zuschauern zu. Wie ich erwartet hatte, folgte er mir an die Seite. Ich schob den Lappen bis ganz in die Ecke des Spielfelds, um den Anschein zu erwecken, ich hätte mich in eine ausweglose Lage manövriert. Dort wartete ich ein paar Augenblick, dann machte ich eine schnelle Drehung. Ich hoffte, damit an Sandro vorbeizukommen und freie Bahn aufs Tor zu haben. Doch die Aktion misslang und er nahm mir den Lappen ab. Ohne zu zögern begann er einen Sprint auf mein leeres Tor zu. Ich rannte ihm hinterher, doch es war klar, dass ich ihn nicht mehr überholen konnte, um mein Tor zu verteidigen. Also schwang ich meinen Besen wie eine Sense und zog Sandros Bein weg, das er gerade im vollen Lauf hinter sich geworfen hatte. Er hob ab.

Sandro schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Linoleumboden auf, sein Kopf nur ein paar Zentimeter neben dem Stuhl. Um ein Haar wäre er mit dem Gesicht auf der Kante gelandet. Ein Raunen ging durch die Reihen. Ich fühlte gar nichts und als ich mich zu Max und Freddi dreht, grinsten die breit, und ich grinste zurück. Die Aktion schien gelungen. Dann sah ich Annette und eine weitere Leiterin aufspringen und zu Sandro eilen. Der begann zu schluchzen und sich das Handgelenk zu halten. Ich realisierte, dass die Aktion überhaupt nicht gelungen war. Ich war in Schwierigkeiten. Unschlüssig, was ich tun sollte, suchte ich die Reihen ab. Aber alles, was ich fand, war ein höhnisches Lächeln von Markus. Ich ging zu Sandro und Annette und kniete mich hin. “Ist es schlimm? Das wollte ich nicht!”
Annette sah mich ernst an. “Geh bitte auf euer Zimmer und warte da, bis wir dich abholen.”

Ich sass auf einem Holzstuhl. Die Sitzfläche war klein und die Lehne gerade, sodass ich sehr aufrecht sitzen musste. Das war mir unangenehm, ich wäre gerne so weit wie nur möglich zurückgewichen vor der Steinecke, die ausser sich war. Sie hatte die Hände in die Hüfte gestemmt und redete wie eine aufgebrachte Pute auf mich ein. Ich hielt den Kopf gesenkt und hörte ihr nicht richtig zu. Ich bekam nur mit, dass ich mich in aller Form bei Sandro entschuldigen musste und dass die Fahrt für mich zu Ende sei. Meine Augen suchten Annette. Doch in ihrem Blick fand ich keinen Trost. Sie sah mich mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verständnislosigkeit an und dieser Blick war für mich die grösste Strafe. Ich schämte mich vor ihr.

“Ich bin wirklich fassungslos”, sagte meine Mutter, nachdem wir bestimmt schon eine halbe Stunde lang unterwegs waren. Vorher hatte keiner von uns ein Wort gesagt. Sie hatte stur geradeaus auf die Strasse, ich aus dem Beifahrerfenster geguckt, obwohl es draussen vollkommen dunkel war. So wütend hatte ich sie noch nie erlebt.
Es vergingen Minuten, bis sie weitersprach. “Kannst du mir bitte einmal erklären, was in dich gefahren ist?”
Ich schwieg.
“Ich hab dich was gefragt! Was bitte ist da in dich gefahren? Kannst du mir das bitte mal sagen?”
“Nein, kann ich nicht”, murmelte ich.


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