Schwarzer Sumpf

Short Stories

Ausfallschritte

Das Haus gegenüber ist grau und kantig wie ein Bunker. Die einmal bunten Markisen sind ausgeblichen und voller Vogelkot. Er hat das Haus den ganzen Tag vor Augen und große Teile der Nacht, kennt mittlerweile jede Rille und jeden Riss, kennt seine Bewohner. Zumindest diejenigen, die ab und an auf die Balkone treten oder hinter den Fenstern sitzen. Rausgehen tut er selten. Der Arzt hat ihm zu Spaziergängen am Morgen geraten, des Sonnenlichts wegen, aber es gelingt ihm nicht, diesem Rat zu folgen. Manchmal geht er nachmittags zum Frachthafen, ein paar Schritte nur, vielleicht eine halbe Stunde lang. Für gewöhnlich ist kein Schiff im Becken, dessen Ladung zu löschen wäre, sodass auch hier nur Leere herrscht. Um dem Muskelabbau entgegenzuwirken, macht er Gymnastik, Klimmzüge, Liegestütze, Rumpfbeugen und Ausfallschritte. Seine Ernährung ist einfach. Sie besteht aus Milchprodukten, Teigwaren, Eiern, Obst und rohem Gemüse. Sein Laster ist der Alkohol. Er trinkt nicht allzu viel, aber mehr, als er sollte. Er würde vielleicht mehr trinken, doch er hat Angst vor der Wechselwirkung. Einmal im Monat schickt die Behörde postalisch ein Formular, in dem er seine Bemühungen nachweisen muss. Er füllt es wahrheitsgemäß mit einem Kugelschreiber aus und schickt es zurück. Vier Mal im Jahr muss er einem Sachbearbeiter persönlich Bericht erstatten. Seine Schreiben, wöchentlich aufgesetzt und ins halbe Land versendet, bleiben in der Regel unbeantwortet. Nur selten wird er zum Gespräch geladen. Es wird sich nach seinem Befinden erkundigt und ihm wird Wasser angeboten. Anschließend sitzt er zwei oder drei Personen an einem Tisch gegenüber und spricht über sich. Am Ende gibt er ihnen die Hand, dann geht er wieder zu sich und dem Haus gegenüber. Im Sommer wandert die Sonne am späten Nachmittag über das Dach und scheint zu ihm herein. Er muss dann die Gardinen zuziehen, um nicht geblendet zu werden. Im Winter schneidet am Mittag ein schmaler Strahl durchs Zimmer, das ist alles. Er zieht die Gardinen erst am Abend zu, wenn er nicht gesehen werden will. Von Zeit zu Zeit wechseln die Menschen im Haus gegenüber. Die meisten sind alt und es ist ihr letzter Umzug. Ihn tangiert das nicht. Er ist noch jung und sitzt in seiner eigenen Wohnung.


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