Schwarzer Sumpf

Short Stories

Notiz 8

Die Welt schaut zu, als ein 58-Jähriger Mike Tyson gegen einen 27-Jährigen Youtuber antritt – ein „Profikampf“ unter erleichterten Bedingungen (kürzere Runden, weniger Runden, dickere Handschuhe). Was sagt das über unsere Zeit aus? Nichts Gutes.

Jake Paul hat sich ein narzisstisches Paralleluniversum geschaffen, was mittlerweile völlig normal ist. Kanye West, Donald Trump, Elon Musk … sie alle tun das. Jake Paul hat sich für viel Geld zum Boxer ausbilden lassen, aber er ist kein Boxer. Seine Gegner sind selbstgewählt, am Ende von ihm bezahlt und seine Kämpfe finden außerhalb des offiziellen Boxsports statt. Darum gewinnt er bislang praktisch immer. Was muss man für ein Mensch sein, um sich eine Welt zu schaffen, in der man selbst der Größte ist, während es eine reale Welt gibt, in der dieselben Dinge stattfinden – nur authentisch und risikobehaftet? Jake Paul könnte ohne finanzielles Risiko, denn er hat ausgesorgt, in offiziellen Kämpfen antreten und dort seinen Mann stehen. Tut er aber nicht, er gibt in Showkämpfen den ungeliebten Bösewicht und kassiert ab.

Man könnte sagen, clever. Aber was mich wundert ist eben: Was muss man für ein Mensch sein, um wochen-, monate-, jahrelang seinen Körper zu stählen und zu schinden, nur um am Ende damit Marketing-Stunts abzuziehen? Ich glaube nicht, dass man ein Boxtraining und eine Kampfvorbereitung allein auf Basis der Motivation absolvieren kann: „Denk an das Geld, denk daran, wofür du das machst: eine gute Figur abgeben und die Leute unterhalten!“ Ich bin mir sicher, er hält sich wirklich für einen Boxer und motiviert sich so wie jeder andere Boxer auch über eine simulierte Wut auf seinen Gegner und über seine eigene Überlegenheit.

Jake Paul als Figur und Mensch ist das eine Faszinosum für mich, das andere ist das Publikum – ehrlicherweise mich eingeschlossen (immerhin kritisch). Warum gelingt es, einen Hype damit zu erzeugen, dass ein alter Boxer gegen einen jungen Narzissten antritt? Warum sehen die meisten Menschen sehr wohl, dass dies am Ende alles ein kalkuliertes Theater ist, und schalten trotzdem ein? Warum berichten ganz normale Zeitungen darüber? Warum wendet sich die Welt nicht ab und dem echten Boxsport zu? Warum macht man sich nicht kollektiv lustig oder wendet sich dem nicht gar nicht erst zu? Sind wir alle so einfach zu manipulieren?

Aber es gibt noch etwas, was mich an diesem Event fasziniert. Mike Tyson wurde deklassiert. Es war blamabel für ihn. Und obwohl das erstens zu erwarten und zweitens für die Welt live sichtbar war, breitete sich im Internet postwendend die These aus, er hätte simuliert und alles sei nur Theater. Wie kann es sein, dass man einen Menschen stolpern und wanken sieht, verfehlen und schnaufen, aber meint, er sei in Wahrheit überlegen? Haben wir gar keinen Sinn mehr für die Wahrheit? Ist sie mittlerweile dermaßen bedeutungslos, dass wir das eine mitansehen und das andere behaupten können? Es ist de facto unmöglich, Leuten heute noch etwas zu beweisen. Man kann die These („Tyson würde diesen Kerl zu Brei schlagen!“) in Echtzeit und öffentlich überprüfen und die Leute leugnen die Geschehnisse trotzdem. Wahnsinn!


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