Am Montag im Büro fühlte ich mich abgeschlagen. Mein Husten war wieder schlimmer geworden. Hannah tippte wie eine Besessene auf ihrer Tastatur.
„Kannst du bitte heute mal bei Tom wegen dem Artikel nachfragen?“, sagte sie.
„Ja.“
Ich öffnete meine To-do-Liste. „Check Tom“ stand darauf ganz oben. Ich überflog die anderen Aufgaben: „Teaser“, „Abrechnungen“, „Artikel Geschichte einpflegen“, „Briefing Grafik“ und noch ein paar weitere Tasks. Mein Kopf schmerzte und ich rieb mir die Stirn.
„Hartes Wochenende gehabt?“, fragte Hannah mit spöttischem Ton.
„Nein, ich bin noch immer krank.“
„Wie lange dauert denn das bei dir?“
Sie liess es wie einen Vorwurf klingen.
„Keine Ahnung. Hab’s wohl verschleppt.“
Ich wollte ins Detail gehen, sah aber, dass sie sich bereits wieder ihrem Computer zugewendet hatte. Ich überflog noch einmal die Liste und beschloss, mit den Teasern anzufangen. Ich öffnete den ersten Artikel und begann zu lesen. Ich war gerade drei Absätze weit gekommen, da sagte Hannah: „Hast du die Tabelle mit den Abrechnungen schon fertig?“
„Nein, wollte ich aber heute machen.“
„Die brauche ich.“
„Hat das Zeit bis zum Nachmittag? Ich hab mich gerade an die Teaser gesetzt.“
„Nein, mach das bitte als erstes.“
„Okay“
Ich liess den Artikel in der Taskleiste verschwinden und suchte im Postfach die Rechnungen zusammen. Dabei musste ich mich konzentrieren, denn schnell konnte man eine übersehen oder ein Datum verwechseln. In meinem Kopf hämmerte es jetzt. Ich überlegte, ob ich Hannah nach einer Aspirin fragen sollte, liess es aber bleiben. Es war besser, wenn ich mir in der Mittagspause bei der Apotheke selbst welche kaufte. Als ich mir sicher war, alle Rechnungen zusammenzuhaben, öffnete ich die Tabelle mit der Gesamtaufstellung und begann, händisch die Werte zu übertragen. Auch hierbei musste ich aufpassen, keinen Fehler zu machen, denn es gab verschiedene Stundensätze, je nachdem, welcher Autor was geschrieben hatte. Kaum hatte ich mich so weit in der Tabelle orientiert, dass die Arbeit flüssig voranschritt, sprach mich Hannah wieder an.
„Ich hab dir gerade den Text für die Startseite geschickt, kannst du bitte auch noch mal kurz drüberschauen? Dann kann der raus.“
„Jetzt sofort?“
„Ja, bitte!“
Ich atmete aus. Hannah verzog das Gesicht.
„Passt dir was nicht?“
„Wieso?“
„Weil du so demonstrativ stöhnst. Übrigens nicht das erste Mal.“
„Demonstrativ?“
„Ja, so als würdest du sagen wollen, hab keinen Bock!“
„Naja, ich bin halt seit Wochen krank …“
„Was hast du denn eigentlich? Ich höre dich nur ab und zu husten.“
„Ja, eben, Husten. Hab auch Kopfschmerzen und …“
Ich merkte an ihrem Blick, dass es zwecklos war, ihr meinen Zustand verständlich zu machen.
„Dazu kommt”, sagte ich stattdessen, „dass es einfach anstrengend ist, alle zehn Minuten eine andere Aufgabe zu bekommen, die ich dann umgehend ausführen soll.“
Hannah lachte auf. Es wirkte überlegen. „So ist eben die Arbeit in einer Agentur.“
Ich erwiderte nichts und der Satz schwebte im Raum.
Abends kaufte ich im Gesundbrunnen-Center ein. Ich lief nach Hause. Es waren viele Menschen auf der Strasse. Vor den Kiosken und Imbissbuden standen schwarzhaarige Männer und rauchten, alte Frauen mit Kopftuch kramten in den Auslagen der Gemüsehändler nach den letzten unversehrten Stücken. Der Wedding hatte nichts mit dem Berlin zu tun, das ich vor meinem Umzug kennengelernt hatte. Auf die Prachtboulevards und in die Szene-Kieze kam ich nie, denn ich tat nichts anderes, als zur Arbeit und wieder nach Hause zu fahren. Ich stieg morgens die Treppen der Station Pankstrasse herunter, setzte mich in die U8, fuhr bis zum Alex, lief unter dem ganzen Platz hindurch, kaufte mir in einem der unterirdischen Backshops mein Frühstück und fuhr mit der U2 die restlichen Stationen bis zum Hausvogteiplatz mitten im sterilen Botschaftsviertel, wo das Haus mit dem Büro der Agentur lag, deren Zweigstelle Hannah und ich bildeten. In den übrigen Räumlichkeiten residierte eine andere Agentur, Concept B, der Rest unserer Firma sass in Leipzig. Mittags ging ich mir entweder bei einem im Schatten von Plattenbautürmen liegenden Lidl ein zusammengewürfeltes Mittagessen in Plastikschalen kaufen, oder ich ging mit Hannah und einer Handvoll Leuten von Concept B zum Spittelmarkt, wo ein, zwei Mal die Woche ein paar Food-Trucks parkten. Wie die anderen kaufte ich mir dort jedes Mal eine gefüllte Kartoffel und ass sie hastig an einem der Stehtische. Satt wurde ich von der Kartoffel nie. Abends fuhr ich dann völlig erschöpft auf demselben Wege wie am Morgen wieder in den Wedding, wo ich übergangsweise ein Zimmer hatte.
***
In der Nacht zum Dienstag hatte es geschneit. Ich stieg die Stufen zum Hausvogteiplatz hoch und betrachtete die imposante Front des Häuserblocks, in den ich gleich hineingehen würde. Die Beleuchtung unter dem Dachsims war noch an, sodass der Klotz mit seiner weissen, dicken Haube märchenhaft einladend wirkte. In den ersten ein, zwei Wochen hatte mich jeden Tag Stolz ergriffen, wenn ich auf diesen Komplex zugeschritten war. Ich hatte den Glauben an einen richtigen Job ja schon aufgegeben gehabt. Mit meinem Studium war im Journalismus wider Erwarten nichts zu holen gewesen und für alles andere fehlte mir jegliche Qualifikation. Also hatte ich die Jobsuche irgendwann aufgegeben und mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Meinen Vater, der mich ständig fragte, was ich denn eigentlich mit meinem Leben anfangen wollte, vertröstete ich mit erfundenen Vorstellungsgesprächen und leeren Versprechungen. Irgendwann machte ich mich dann doch noch einmal an eine halbherzige Jobsuche und entdeckte durch Zufall eine Traumstelle. Sie war zwar in Berlin, passte aber wirklich perfekt zu mir. Ich bewarb mich, ohne daran zu glauben, eine Chance zu haben. Doch völlig überraschend wurde ich eingeladen, um mich vorzustellen und einen Tag lang probezuarbeiten. Noch am Nachmittag gab mir der Agenturbesitzer Mirko am Telefon den Job. Ohne zu zögern, sagte ich zu und eine Woche später zog ich mit einem Koffer und drei Umzugskisten nach Berlin.
Hannah war wie immer schon da.
„Guten Morgen“, grüsste ich.
„Guten Morgen”, erwiderte sie, ohne aufzusehen.
Ich zog meine Jacke aus und legte sie über einen zugeklappten Stuhl, der in einer Ecke herumstand. „Wir bräuchten mal eine Garderobe.”
„Mhm.”
Ich setzte mich und schaltete den PC an.
„Ich mach dann jetzt erst mal die Teaser fertig, oder?”, sagte ich nach einer Weile, um die Stille zu durchbrechen. Hannah sah mich an. „Das kann ich dir nicht sagen. Du musst dir deine Arbeit schon selbst organisieren.”
Wut stieg in mir auf, aber ich biss mir auf die Zähne. „Alles klar.”
Sie tippte weiter. Schliesslich sagte sie: „Ach, übrigens, ich habe mir gerade ein Zugticket für die Fahrt nach Leipzig gebucht. Ich würde dir empfehlen, dein Ticket auch bald zu buchen.”
„Wegen der Weihnachtsfeier?“
„Ja.“
„Und mir hast du kein Ticket gebucht?”
„Ich weiss ja nicht, welchen Zug du nehmen willst.”
„Gibt es da so früh am Morgen mehrere?”
Sie reagierte nicht mehr. Ich rief die Website der Bahn auf, war mir aber beim Datum nicht mehr sicher. „Wann ist die Feier noch mal?”
Sie sah mich mit ausdruckloser Miene an. „Steht alles in der Einladung, die du per E-Mail bekommen hast.”
Ich seufzte. Als mir das bewusst wurde, hielt ich kurz den Atem an. Aber Hannah ging nicht darauf ein.
Kurz nach zwölf kam die Office-Managerin von Concept B zu uns ins Zimmer. „Wir gehen gleich auf den Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt. Kommt ihr mit?”
„Oh, das ist ja schön“, sagte Hannah. „Ich komme mit.”
„Wir treffen uns um halb eins vorne.“
Ich rang mit mir. Die Office-Managerin war schon aus dem Zimmer, als ich leise sagte: „Ich bin auch dabei.“
Um auf den Markt zu gelangen, musste man durch einen von Security bewachten Eingang hindurch. Mit all dem Schnee auf den Dächern der Holzhütten und der herrschaftlichen Kulisse im Hintergrund wirkte der Platz biedermeierlich aus der Zeit gefallen. Die Leute von Concept B spulten ihre Essenswünsche herunter. Sie schienen das Angebot bereits gut zu kennen. Hannah schloss sich zwei von ihnen an. Ich sagte, dass ich mich erst einmal umsehen müsste. Wir verabredeten uns zehn Minuten später am selben Ort. Ich streifte ein wenig durch die Gassen, bis es Zeit war, zu den anderen zurückzukehren. Ohne gross nachzudenken, kaufte ich mir an einer Bude drei Reibekuchen mit Apfelkompott und reihte mich in den Kreis ein, den Hannah und die anderen mittlerweile gebildet hatten. Ich vermied es, Augenkontakt herzustellen und bereute, dass ich mitgekommen war. Wenn diese Menschen doch nur einmal richtig miteinander sprechen würden, dachte ich mir. Aber sie passten sich nur austauschbare Phrasen über ihre Wochenenden und Urlaubspläne zu oder über Restaurants, in denen sie kürzlich gegessen hatten. Gerade erzählte die Office-Managerin, dass sie am Wochenende bei der „Burgervertretung” am Monbijoupark gewesen sei und dass man dort Hamburger bekäme, die dreissig Zentimeter hoch wären. Die anderen zeigten sich sehr interessiert und warfen andere Burgerrestaurants in die Runde, bei denen sie schon einmal gewesen waren. Ich wusste, irgendwas musste ich auch sagen, wie sähe das sonst aus? Also verkündete ich kurzerhand, dass bei mir um die Ecke auch ein guter Burgerladen sei. Jetzt sahen mich alle an.
„Ja, Burger Vision oder Vision Burger“, fuhr ich fort. „Ich weiss nicht mehr genau. Ist nicht besonders fancy, aber die Burger sind gut. Nicht so voller Sauce.“
Ich erntete vereinzeltes Nicken und ein mildes Lächeln von einer Kleinen, deren Namen ich nicht kannte. Die anderen setzten ihre Konversation fort, die ich jetzt, wo ich mich zu Wort gemeldet hatte, ausblenden konnte. Ich schmeckte die fettig-süssen Reibekuchen in meinem Mund und spürte die kalte Luft auf meinen Wangen. Mein Blick schweifte von den Hütten zu den Prachtbauten des Platzes und wieder zurück. Da hörte ich jemanden sagen: „Pass auf, dir tropft alles herunter!”
Ich wandte meinen Blick wieder der Gruppe zu und sah, wie weisse Sauce von Hannahs vegetarischem Kebab auf ihren schwarzen Wollmantel tropfte.
„Oh!”, sagte sie lachend und hob schnell den Kebab von sich weg. Die Sauce tropfte weiter, jetzt auf das nasse Pflaster vor ihr. Hannah hatte das Ausmass der Verschmutzung noch gar nicht realisiert. Ihr Mantel war voll vom Kragen bis zur Taille und auch an ihrem Kinn hing Sauce.
„Warte, ich hol dir mehr Servietten”, sagte die Office-Managerin und verschwand hektisch.
Hannah stand da, unschlüssig, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Sie konnte den Kebab nirgendwo ablegen und ihre Hände waren ebenfalls voller Sauce.
„So ein Mist”, sagte sie verlegen, während alle Augen mitleidig auf sie gerichtet waren. Sie wurde rot, und keiner wusste, wie er helfen sollte. Die Office-Managerin kam zurück. „Ich nehm dir das mal ab.”
Sie fasste mit Servietten um den Kebab. „Schau mal in meine Tasche, da sind noch mehr.”
Aber Hannah war aufgrund ihrer besudelten Hände handlungsunfähig. Es dauerte, bis sich jemand erbarmte und für sie die Servietten aus der Jackentasche der Office-Managerin zog, um sie ihr zu reichen. Hannah bedankte sich demütig und nachdem sie ihre Hände gereinigt hatte, strich sie die Sauce vom Mantel ab.
„Du hast hier auch was“, sagte die namenlose Kleine und zeigte auf ihr Kinn.
Hannahs Gesicht glühte jetzt. Sie wischte sich die Saue vom Kinn und begann dann mit kurzen Bewegungen über den Mantel zu fahren, doch damit massierte sie die Reste nur tiefer und tiefer in die Wolle ein, sodass sich auffällige, hellgraue Flecken auf dem dunklen Stoff bildeten. Es war alles wirklich grausam anzusehen und die anderen machten Bemerkungen wie „Du Arme! Geh besser zurück ins Büro und wasch das richtig raus.“
Ich hingegen empfand eine Freude, die mit jedem Strich von Hannahs Hand grösser wurde.
***
Die nächsten beiden Tage verliefen ereignislos. Hannah redete nun gar nicht mehr mit mir. Ich glaube, am Mittwoch sagte sie nur „Guten Morgen“. Abends ging sie einfach nach Hause, ohne mir einen schönen Feierabend zu wünschen. Donnerstag war sie nicht im Büro. Ich wunderte mich, dann fiel mir ein, dass sie bei irgendeinem Workshop war. Ich genoss es, allein im Raum zu sein, machte mir Musik an und arbeitete alle Aufgaben ab, die ich für die Woche noch auf dem Zettel hatte. Nach Feierabend fuhr ich zurück in den Wedding und ging in einer von Türken betriebenen Pizzeria italienisch essen. Danach wurde ich sehr müde.
***
Als am Freitagmorgen der Wecker klingelte, snoozte ich mehrmals. Der Raum war kalt und das Bett war so warm. Und ich war so müde. Um mich in Ruhe fertig zu machen, musste ich um halb acht aufstehen. Als ich es endlich schaffte, die Augen richtig zu öffnen, war es kurz vor halb neun. Damit war es rein rechnerisch unmöglich, noch pünktlich im Büro zu sein, und ich merkte, wie diese Tatsache meinen Willen brach. Ich entschied, zu Hause zu bleiben. Meine Wochenaufgaben waren ja ohnehin schon erledigt, dachte ich mir. Ich schrieb Hannah eine Sms, dass ich krank sei. Dann legte ich das Handy wieder weg und kuschelte mich in die Decke, um noch etwas zu dösen. Gegen zehn stand ich auf. Mir fiel ein, dass die Agentur ab dem ersten Krankheitstag ein Attest haben wollte. Ich machte mir einen Kaffee und googelte nach Ärzten in der Gegend.
Vor dem Haus des Arztes wunderte ich mich. War das die richtige Adresse? Ich sah keine Tür, sondern nur eine Durchfahrt zu einem Hinterhof. In dieser Durchfahrt trieb sich ein Dutzend abgerissener Personen herum. Sie sahen aus wie Junkies. Einige von ihnen waren aufgebracht, andere wirkten apathisch. Ich zögerte kurz, dann entdeckte ich in der Wand der Durchfahrt die Tür zum Gebäude. Ich schlängelte mich zwischen den Leuten durch, ohne jemandem in die Augen zu schauen oder jemanden zu streifen. Auf einem Schild neben der Tür war eine ganze Reihe von Ärzten aufgelistet, darunter auch der Name, den ich mir notiert hatte. Ich stieg ein ranziges Treppenhaus mit gelbem Handlauf und hellbraunen Fliesen hoch. In den Ecken auf den Zwischenetagen lagen fleckige Taschentücher, Zigarettenschachteln und Alufolie. Auch in der Praxis standen Junkies herum. Sie gruppierten sich um ein Fenster, wie man es aus Ämtern kennt. Ich war irritiert, dann dämmerte mir, dass es sich um eine Methadonausgabestelle handeln musste. Aber wo musste ich hin? Ich sah mich um und entdeckte eine Glastür, auf der in weissen Lettern stand: „Anmeldung Arztpraxis“.
Eine nicht mehr ganz junge Frau lugte ins Wartezimmer und rief meinen Namen. Ich stand auf und folgte ihr ins Sprechzimmer.
„Nehmen Sie Platz, bitte.”
Ich setzte mich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Sie tippte etwas auf ihrer Tastatur, dann sah sie mich an. Sie wirkte nett. „Was kann ich für Sie tun?”
„Ja, ich bin hier, weil … Also ich habe eine Erkältung, die nicht weg geht, seit einigen Wochen. Zumindest nehme ich an, dass es eine Erkältung ist. Genau weiss ich es natürlich nicht. Aber das werden Sie ja gleich …”
Ich merkte, dass ich zu viel sprach.
„… Herausfinden”, schob ich noch nach.
Sie lächelte. „Das hoffe ich. Was haben Sie denn genau?”
„Also vor allem Husten. Den habe ich jeden Winter, beziehungsweise jeden Herbst und Winter. Mein Vater sagt immer, das sei, weil ich als Kind einmal starken Keuchhusten hatte, aber da gehen die Meinungen ihrer Kollegen auseinander.”
„Ja, so ist das bei uns Ärzten. Ist der Husten produktiv?”
„Bitte?”
„Ich meine, sind sie auch verschleimt?“
„Ja. Also nicht dramatisch, aber schon. Am Anfang habe ich ACC Akut genommen und dann auch noch mal Gelomyrtol, aber das schien mir beides nichts zu bringen.”
„Und wie lange haben Sie den Husten jetzt genau?”
„Das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Ich bin nämlich erst vor sechs Wochen hierhergezogen. Und es fing in der Woche vorher an, also in der letzten Oktoberwoche, müsste das gewesen sein. Moment … Mein erster Tag war der sechsundzwanzigste Oktober, das war ein Montag, also, ja, seit der letzten Oktoberwoche.”
„Und haben Sie weitere Symptome?”
„Ja. Ich habe ab und zu Kopfschmerzen, also starke Kopfschmerzen, was ich eigentlich nie habe. Ausserdem fühle ich mich insgesamt abgeschlagen. Und ich bin kurzatmig. Ich meine, ich mache natürlich zurzeit keinen Sport, aber wenn ich die Treppen zu meiner Wohnung im vierten Stock hochgehe, dann fällt mir das schon ein wenig schwer.”
„Gut. Haben oder hatten Sie Fieber?”
„Das weiss ich nicht. Am Tag von meinem Umzug, also es war kein richtiger Umzug, ich habe nur ein paar erste Kisten mitgenommen, der richtige Umzug steht noch an, wenn ich denn hierbleibe, also als ich damals die Kisten in die Wohnung getragen hab, da habe ich unverhältnismässig stark geschwitzt, schien mir, und danach war ich richtig fertig. Das war genau am Abend vor meinem ersten Arbeitstag. Aber Fieber gemessen habe ich nicht. Hätte auch gar kein Thermometer gehabt.”
„Verstehe. Dann ziehen Sie einmal bitte Ihren Pullover hoch, damit ich Sie abhören kann.”
Ich folgte ihrer Aufforderung. Sie platzierte das kalte Metallstück auf meinem Rücken. „Mit offenem Mund ein- und ausatmen, bitte.”
Ich hechelte ein paar Mal und spürte, wie sie das Stethoskop versetzte.
„Die Lunge ist so weit frei.”
Sie ging zu einem Sideboard und nahm ein Plastikstäbchen aus einer kleinen Kiste. „Dann noch einmal den Mund weit öffnen bitte und ‘Ahhh’ sagen.”
Sie schmiss das Stäbchen in einen Abfalleimer und nahm wieder auf ihrem Schreibtischstuhl Platz. “Also Sie haben eine Sinusitis. Nichts Ernstes. Der Schleim läuft Ihnen hinten die Nase herunter, das löst den Hustenreiz aus.”
„Okay. Und warum geht das nicht weg?”
„Haben Sie derzeit viel Stress?”
„Eigentlich nicht. Und dann irgendwie doch, schon. Kommt drauf an, wie man Stress definiert, schätze ich.”
Sie sah mich fragend an und ich verstand das als Bitte, ins Detail zu gehen.
„Naja, ich sagte ja bereits, dass ich erst vor sechs Wochen hierhergezogen bin. Für einen Job. Das ging alles sehr schnell. Habe die Zusage bekommen und musste dann innerhalb von einer Woche ein Zimmer suchen und den ganzen Umzug organisieren, also auch eine Untermiete für mein Zimmer zu Hause und so weiter. Und vorher bin ich eben krank geworden, das hat das alles natürlich erst recht anstrengend gemacht. Tja, und seit ich hier bin, besteht mein Leben nur aus Arbeiten und abends und am Wochenende versuchen, mich irgendwie auszukurieren.”
„Wo arbeiten Sie?”
„In einer Agentur, einer Marketingagentur. Marketing und Text.”
„Das ist sicher anstrengend.“
„Ja. Ich mache fast jeden Tag Überstunden. Und natürlich kenne ich mich auch noch nicht mit allem aus, das ist mitunter sehr fordernd.”
„Also, es ist kein Wunder, dass Sie nicht gesund werden.”
„Wie meinen Sie das?”
„Wenn wir unter Stress stehen, produziert unser Körper verstärkt Cortisol. Das ist ein Hormon. Haben Sie bestimmt schon einmal gehört.”
„Ja … Und was mache ich jetzt?”
„Den Stress reduzieren. Ich werde sie für zwei Wochen krankschreiben. Es ist ja auch nicht mehr lange hin bis Weihnachten. Haben Sie da Urlaub?”
„Wir haben zwischen den Feiertagen Betriebsferien, ja.“
„Wunderbar. Dann schreibe ich Sie krank von heute bis zum Fünfundzwanzigsten. Damit haben Sie im Ganzen sogar drei Wochen, um sich mal richtig auszukurieren. Machen Sie Dinge, die Ihnen guttun. Und sollte das nicht reichen, kommen Sie im neuen Jahr gerne noch einmal vorbei, dann verlängere ich das noch einmal. Ich schreibe Ihnen ausserdem noch ein homöopathisches Mittel für die Nase auf. Das nehmen Sie drei Mal am Tag.”
Sie schaute auf den Bildschirm. Ich merkte, wie plötzlich eine Last von mir abfiel. Doch meine Freude wurde direkt wieder getrübt.
„Mir fällt gerade was ein“, sagte ich. „Ich habe ja noch Probezeit. Vielleicht ist es besser, es erst einmal doch nur mit dem Medikament zu versuchen.“
Die Ärztin sah mich fragend an. „Wollen Sie gesund werden oder wollen Sie das noch bis zum Sommer mit sich herumschleppen?“
Ich dachte an die freudlosen Wochen zurück, die hinter mir lagen.
„Gesund werden.“
„Dann empfehle ich Ihnen dringend diese Auszeit.“
„Verstehe. Okay, dann machen wir es so, wie Sie gesagt haben.“
Auf der Strasse zog ich mein Handy aus der Tasche und rief Hannah an.
„Ich war grade beim Arzt und sie hat mich heute und die nächsten zwei Wochen krankgeschrieben.”
„Oh! Alles klar.”
Ich konnte aus ihrer Stimme nicht heraushören, wie sie die Nachricht aufnahm.
„Ich schicke dann die Krankmeldung direkt nach Leipzig, oder?”
„Ja.”
„Glaubst du, ich muss dann noch extra für die Weihnachtsfeier absagen?”
„Nein.“
Obwohl ich Hannahs Reaktion immer noch nicht einschätzen konnte, spürte ich den Impuls, meine kommende Abwesenheit kleinzureden.
„Meine offenen Tasks habe ich gestern alle abgehakt, das ist also nichts mehr offen.”
„Okay.”
Sofort ärgerte ich mich. Ich war denen doch nichts schuldig. Um meiner Unterwürfigkeit entgegenzuwirken, verabschiedete ich mich betont heiter. „Also, dann … schönen Tag dir noch und schönes Wochenende schon mal. Und frohe Weihnachten kann ich ja jetzt eigentlich auch schon wünschen.”
Sie lachte auf. „Danke.”
Es klang zynisch.
Am Abend packte ich meine Sachen. Ich hatte beschlossen, schon jetzt zu meinem Vater zu fahren. Was sollte ich zwei Wochen allein in Berlin herumsitzen? Ich legte Klamotten in eine Sporttasche und nahm zwischendurch einen Schluck aus einer Bierflasche, die ich mir auf dem Heimweg gekauft hatte. Meine Laune war ausgezeichnet. Plötzlich schien mir alles halb so wild zu sein. Ich würde jetzt drei Wochen lang ausspannen und dann im neuen Jahr noch einmal mit frischen Kräften in Berlin ankommen. Sobald ich ein neues Zimmer gefunden hatte und wusste, in welchem Viertel ich länger leben würde, würde ich mir einen Sportverein suchen. Ausserdem hatte ich beschlossen, mich bei meinem alten Mitbewohner zu melden. Wir waren zwar nicht besonders eng gewesen, aber er war immerhin ein erster Kontakt in der Stadt. Vielleicht ergaben sich durch ihn weitere. Und die Arbeit war am Ende doch auch gar nicht so schlecht. Klar, Hannah ging mir auf den Sack, aber damit konnte ich mich ja wohl arrangieren. Und vielleicht würde sie ja doch noch auftauen. Die Arbeit selbst war schon okay. Immerhin musste ich nicht mehr stundenlang staubige Keller fegen oder Steine schleppen, bis ich meine Hand nicht mehr öffnen konnte.
***
Als ich am nächsten Morgen in die Küche kam, lag ein Brief für mich auf dem Küchentisch. Offensichtlich war Marianne, meine Vermieterin zurück. Der Brief war nicht frankiert. Ich öffnete ihn und las. „Hiermit kündigen wir das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 26. Dezember 2016.”
Ungläubig las ich die Zeilen noch einmal.
„Guten Morgen!” Marianne kam mit hastigen Bewegungen in die Küche. Ich liess den Brief sinken und drückte die beschriebene Seite gegen meinen Oberschenkel. „Guten Morgen. Bist du zurück?”
„Ja, heute morgen um sieben gelandet.”
„Wie war’s?”
„Anstrengend. Du hast Post. Hast du schon gesehen, ja?”
„Ja, danke.”
„So, ich brauche noch …“ Sie kramte im schmalen Schrank neben der Tür. „… Eine zweite Tüte.”
Sie war ungefähr zehn Jahre älter als ich. Vielleicht auch etwas mehr. Ich konnte ihr Alter nur schwer schätzen, denn sie kleidete sich sehr formell. Sie arbeitete bei einer NGO oder einer Behörde und hatte etwas Steifes an sich.
„Gehst du einkaufen?”, fragte ich, um etwas zu sagen, während meine Gedanken rasten.
„Ja. Soll ich dir was mitbringen?”
Die Frage überraschte mich. „Nein, nein, danke”, wiegelte ich ab.
Sie fand eine Tüte und war bereits wieder im Gehen begriffen, da hielt sie inne. „Ach, eine Sache wollte ich noch ansprechen. Du hast hier drin geraucht, oder?”
Ich wog ab, ob ich lügen sollte oder nicht, und entschied mich für einen Zwischenweg. „Ja, aber nur eine am offenen Fenster.”
„Ich hatte dich doch gebeten, das nicht zu machen.”
„Ja, sorry! Hatte es vergessen.”
Ich kam mir vor wie ein Zwölfjähriger und ärgerte mich. Sie runzelte die Stirn. „Das wär mir wichtig. Ich kann kalten Rauch nämlich auf den Tod nicht ausstehen.”
Sie wandte sich wieder zur Tür und hielt abermals inne. „Hast du eigentlich schon ein Zimmer gefunden?“
„Nein, leider noch nicht.”
Ich verschwieg, dass ich noch gar nicht danach gesucht hatte. Mir kam spontan eine Idee.
„Hier könnte ich keinesfalls noch etwas länger …?”
Allein die Frage schien sie aufzubringen. „Nein, das geht auf keinen Fall! Mein Mann kommt Mitte Januar aus Kairo zurück, das ist eh schon ungünstig, dass sich das noch zwei Wochen überschneidet. Aber so ist das jetzt eben. Ich habe dir ja gesagt, bis Ende Januar kannst du hier wohnen. Dazu stehe ich auch. Aber länger, das geht auf gar keinen Fall. Das wusstest du aber auch!”
Ihre Reaktion schien mir übertrieben. „Ja, war nur ne Frage”, sagte ich.
„Nein, diese Wohnung ist auch überhaupt nicht für drei Leute ausgelegt”, machte sie weiter. „Ausserdem habe ich meinen Mann lange nicht gesehen, da wollen wir auch mal ein wenig zu zweit sein … also nein, nein, das geht nicht.”
„Wie gesagt, war nur ne Frage. Kein Problem.”
Plötzlich schien sie von der Angst ergriffen, ich würde einfach trotzdem dableiben, denn sie sagte in milderem Ton: „Ich kann mich ja mal ein wenig umhören, ob jemand was hat.”
Mir fiel der Brief in meiner Hand wieder ein und ich realisierte, dass ich eventuell überhaupt kein Zimmer mehr brauchte.
„Ja, gerne”, sagte ich trotzdem.
„So, jetzt muss ich aber, sonst hat der Markt … sonst ist da kein … Und du versprichst mir, dass du hier drin nicht mehr …“
Sie zog pantomimisch an einer Zigarette und riss dabei die Augen weit auf, was die Einlage grotesk machte.
„Ja, absolut. Kommt nicht wieder vor. Sorry, noch mal.”
„Schön, dann ist ja alles besprochen. Bis nachher.”
Ich hörte die Wohnungstür ins Schloss fallen und starrte erneut den Brief an. In meinem Kopf ratterte es wie verrückt. Das konnten sie doch nicht machen. Gekündigt? Ohne Vorwarnung? Das hatte sicher mit der Krankmeldung zu tun. Aber man durfte doch krankgeschriebenen Mitarbeitern gar nicht kündigen. Diese Kündigung musste ungültig sein. Wussten sie das nicht? Und wieso war der Brief überhaupt unfrankiert? Das hiess doch, jemand musste ihn persönlich gebracht haben. War Hannah heute Morgen oder gestern Abend hier gewesen, um ihn einzuwerfen? Das klang verrückt. Sie mussten einen Kurier geschickt haben, was nicht minder verrückt klang. Wozu diese Eile? Die Situation ergab insgesamt nicht den geringsten Sinn. Mit einem Schlag wurde ich mordswütend und rief Hannah an.
„Hannah Kleinrock”, meldete sie sich wider Erwarten.
„Ja, ich bin’s. Ich rufe an wegen dem Brief, den ich grade im Briefkasten gefunden habe. Kannst du mir dazu vielleicht was sagen?”
„Was soll ich dazu sagen?”
„Vielleicht, was das soll?”
„Dazu kann ich dir tatsächlich nichts sagen, vor allem nicht am Telefon. Aber am Montag ist Mirko in Berlin, da kannst du um elf Uhr in die Agentur kommen, er wird dann alles gerne persönlich mit dir besprechen.”
„Ich kann Montag nicht in die Agentur kommen.”
„Warum nicht?”
„Weil ich krank bin.”
Sie liess zwei, drei Sekunden verstreichen, bis sie antwortete. „Das musst du wissen. Das ist alles, was ich dir anbieten kann.”
Meine Wut war nun so gross, dass ich nur noch lachen konnte. „Ihr seid echt lustig! Knallt mir einfach die Kündigung hin und jetzt wollt ihr mir nicht mal Auskunft dazu geben?”
„Wie gesagt, du kannst am Montag gerne in die Agentur kommen. Dann kannst du auch direkt deine Sache mitnehmen.”
„Wie gesagt, ich bin krank, darum ist das kein gangbarer Weg.”
„Mehr kann ich dir nicht anbieten.”
„Dann gib mir bitte Mirkos Handynummer.“
„Das geht nicht. Er hat sehr klar gesagt, dass er solche Dinge nur persönlich bespricht.”
„Mhm, klar! Aber einstellen konnte er mich am Telefon. Das ist wirklich eine lachhafte Ausrede!”
„Ich kann dazu nicht mehr sagen. Am Montag ist Mirko in der Agentur, da kannst du mit ihm reden, wenn du es doch noch einrichten kannst.”
Dass sie weiterhin so tat, als sei meine Krankheit fiktiv, brachte mich regelrecht auf die Palme, aber ich unterdrückte den Impuls, erneut darauf einzugehen.
„Was soll das überhaupt, dass der Brief unfrankiert ist?“, fuhr ich stattdessen fort „Habt ihr ernsthaft einen Eilboten geschickt, um mich auch ja noch am ersten Tag nach meiner Krankmeldung loszuwerden?”
„Du scheinst eine sehr eigene Sichtweise der Dinge zu haben.”
„Ist klar, ihr kündigt mir an einem Samstag und das hat nichts damit zu tun, dass ich mich einen Tag vorher krankgemeldet habe? Ist dir eigentlich klar, dass ich zwei Monate lang fast jeden Tag Überstunden gemacht habe, obwohl ich krank war? Und das ist jetzt der Dank dafür?”
Hannah schwieg und ich war mir kurz unsicher, ob sie noch dran war. Ich nahm das Handy vom Ohr. Der Anruf war noch aktiv und ich sprach weiter. Ich hatte ja den wichtigsten Punkt ganz vergessen.
„Ihr habt nur leider etwas Entscheidendes übersehen. Man darf Angestellten nämlich gar nicht kündigen, während sie krankgeschrieben sind. Die Kündigung ist damit unwirksam.”
„Du bist noch in der Probezeit”, sagte Hannah trocken.
Ich schluckte. „Na, und?”
„In der Probezeit darf Arbeitnehmern ohne Angabe von Gründen und ohne Sperrfristen gekündigt werden.”
Es klang aufgesagt, so als hätte sie diesen Satz vorbereitet. Ich fühlte, wie sich mir die Kehle zuschnürte.
„Das werde ich überprüfen.“
Ich war mir bereits sicher, dass sie Recht haben musste. Nicht ich, sie hatten das As im Ärmel gehabt, und ich fühlte mich nun doppelt gedemütigt.
„Du kannst das gerne noch einmal selbst nachlesen”, sagte sie.
Ich legte einfach auf. „Blöde Fotze!”
Mein Hirn lief auf Hochtouren und ich tigerte durch mein Zimmer. Ich suchte nach einem Strohhalm, nach irgendwas, was zu meinen Gunsten lag, auch wenn es nur noch der stumpfen Rache dienen konnte. Was hatte ich gegen sie in der Hand? Irgendwas musste ich doch in der Hand haben! Ich bildete eine Chronologie der Ereignisse, spielte erst die letzten vierundzwanzig Stunden und dann die vergangenen Wochen immer wieder durch, so als hätte ich einen Kriminalfall zu lösen. Dann ging ich im Kopf die Interna durch, mit denen ich in Berührung gekommen war. Konnte ich ihnen mit irgendwas einen reinwürgen? Mir fiel weder etwas auf, noch ein. Ich fluchte und trat gegen meine gepackte Tasche vor dem Bett. Irgendwas musste ich doch tun können! Es schien mir unmöglich, dass hier alles rechtens zugehen sollte: Krankmeldung, Kündigung, Schluss aus. Einfach so gefeuert? Wir waren doch nicht in Amerika! Ich nahm den Brief noch einmal in die Hand und starrte ihn an. Und dann sah ich ihn, den Fehler, den sie gemacht hatten. Die Kündigung war nicht per Hand unterschrieben, die blaue Signatur war lediglich gedruckt. Natürlich! Wie sollte der Brief auch händisch unterschrieben sein? Mirko sass in Leipzig, da nützte ihnen auch der Eilbote nichts. Sie hätten schon jemanden von Leipzig nach Berlin schicken müssen, um mir die Kündigung direkt am nächsten Tag aushändigen zu können. Mein Herz schlug schneller. Dies musste ein entscheidender Formfehler sein! Ich rief sofort meinen Cousin an, der Anwalt war, und er bestätigte alles, sowohl die Möglichkeit einer Kündigung trotz Krankheit während der Probezeit wie auch die Ungültigkeit einer Kündigung, die nicht händisch unterschrieben ist. Ich konnte mein Glück nicht fassen und wollte sofort Hannah anrufen, um ihr ihre eigene Dummheit unter die Nase zu reiben. Doch ich bremste mich. Was hatte ich davon? Sie würde das direkt an Mirko weitergeben und spätestens am kommenden Dienstag hätte ich eine neue, händisch unterschriebene Kündigung im Briefkasten. Nein, nein, nein, das brächte mir gar nichts. Ich musste jetzt clever sein und mir genau überlegen, wie ich diese Karte spielte. In einer Stimmung, als würde ich in die Schlacht ziehen, griff ich nach meiner Tasche.
Auf Höhe Hannover war mein Kampfgeist längst wieder erloschen. Ich hatte realisiert, dass mich auch eine unwirksame Kündigung nicht wirklich weiterbrachte. Ja, ich konnte am zweiten Januar ins Büro gehen und so tun, als sei nichts passiert. Hannah würde verdattert gucken, ich würde ihr genüsslich die Sachlage auseinandersetzen, sie würde aufgebracht Mirko anrufen und mich daraufhin wieder nach Hause schicken. Dort würde ich dann zwei Tage später eine gültige Kündigung erhalten. Das brächte mir drei Wochen länger Gehalt und sonst gar nichts. War das den ganzen Stress wert? Vermutlich nicht. Es war wahrscheinlich klüger, die Sache möglichst schnell abzuhaken. Ich wollte mit diesen Menschen nichts mehr zu tun haben. Aber was jetzt? Diese Frage nagte den Rest der Fahrt an mir. Sollte ich trotzdem in Berlin bleiben, wo ich nun im Grunde nichts mehr verloren und bald nicht mal mehr eine Bleibe hatte? Oder sollte ich als geprügelter Hund zurück nach Hause schleichen, als Loser, den sie nach zwei Monaten gefeuert hatten? „Bist du gut durchgekommen?“ Mein Vater nahm mir die Tasche ab.
„Ja, einigermassen. Bisschen Stau auf der A3 bei Leverkusen.“
„Die ist immer dicht.“
Ich zog die Schuhe aus und hängte meine Jacke an den Haken.
„Dann komm mal rein. Willst du ein Bier haben?“
„Ja, warum nicht?“
Er ging in die Küche und kam mit zwei Flaschen wieder. „Ich trinke heute auch mal eins.“
Wir setzten uns an den Wohnzimmertisch.
„Und du bist krankgeschrieben, sagst du?“
„Ja, zwei Wochen.“
„Pass bloss auf!“
„Warum?“
„Nicht, dass sie dich rauswerfen.“
Ich musste schlucken. „Warum das denn?“
„Du bist doch noch in der Probezeit.“
„Na, und? Darf man da nicht krank werden, oder was?“
„Ich meine nur. So was kommt nicht gut an. Das ist bekannt.“
Ich merkte, wie ich sauer wurde. „Aber das ist doch vollkommener Unsinn. Wenn man krank ist, ist man krank. Was hat das mit der Probezeit zu tun?“
Er zuckte mit den Schultern. Wir nahmen beide einen Schluck und schwiegen.
„Aber sonst gefällt dir der Job?“, fragte er nach einer Weile.
Ich nickte.
„Ich bin ja froh, dass das endlich geklappt hat.“
Ich stellte mich dumm. „Was meinst du?“
„Dass du mal einen richtigen Job findest. Man kann doch nicht ewig so vor sich hinleben.“
„Kann man nicht?“
„Hör mal, du bist jetzt über Dreissig. Als ich so alt war wie du, war ich schon stellvertretender Abteilungsleiter.“
„Das waren auch andere Zeiten.“
„Das waren andere Zeiten, da hast du Recht. Trotzdem. Willst du dein Leben lang Sand schippen? Du bist doch ein kluger Kerl. Ich hab das ja nie verstanden, wie man so was machen kann. Du hast doch studiert, hör mal! Da muss sich doch was Vernünftiges finden.“
„Hab ich ja jetzt.“
„Hast du ja jetzt, richtig. Da bin ich auch sehr froh drüber.“
Er nahm einen Schluck.
„Weisst du eigentlich, dass ich wegen dir ne Menge schlaflose Nächte hatte?“
„Ja, das weiss ich.“
Ich stand auf. „Gibt’s was zu essen?“
„Im Eis ist ne Pizza. Hab ich extra für dich gekauft.“
Ich ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank.
„Weisst du was?“, sagte mein Vater. Er war mir gefolgt und stand jetzt hinter mir. „Lass uns essen gehen. So krank bist du doch nicht, oder? Wir haben ja deinen neuen Job noch gar nicht richtig gefeiert.“
Ich riss die Packung auf und legte die eingeschweisste Scheibe auf ein Brett. Dann machte ich den Ofen an. „Ach, lass das lieber ein ander Mal machen. Ich bin ziemlich müde von der Fahrt.“
Er legte mir die Hand auf die Schulter. „Versteh ich. Dann ruh dich erst mal aus! Läuft ja nicht weg.“
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