„Hey, Weiler!“, rief der Schlotz, aber der Weiler reagierte nicht.
„Hey, Weiler!“, rief der Schlotz noch einmal, aber der Weiler reagierte wieder nicht.
„Hey, Weiler!“, rief der Schlotz erneut, aber der Weiler reagierte immer noch nicht.
Hundert Mal ging das so. Und irgendwann guckte der Weiler rüber und rief:
„Mann, Schlotz, was willst du von mir?“
Der Schlotz rief:
„Was ich von dir will? Ich will, dass du mich nicht anguckst!“
Ein paar von Schlotz‘ Leuten lachten und der Weiler rief:
„Ich guck dich doch gar nicht an!“
Der Schlotz ging zu ihm:
„Wie, du guckst mich nicht an? Ich seh doch, dass du mich anguckst, was erzählst du da?“
„Ich mein, ich hab dich nicht angeguckt. Jetzt guck ich dich natürlich an.“
Der Schlotz baute sich vor ihm auf:
„Hör doch auf, Haare zu spalten. Guckst du mich jetzt an oder nicht?“
„Ja, jetzt guck ich dich an“, sagte der Weiler. „Weil du mit mir redest.“
Er guckte hilfesuchend zu den anderen, aber die schauten alle zu Boden. Nur eins von den Mädels sagte zu Schlotz, dass er ihn in Ruhe lassen soll. Aber der sagte zu ihr:
„Halt dich da raus, Fotze!“
Dann stieß er dem Weiler mit dem Zeigefinger gegen die Brust und sagte:
„Junge, hörst du nicht, was ich sage? Du sollst mich nicht angucken!“
Der Weiler wollte irgendwas antworten, da knallte ihm der Schlotz eine:
„Bist du ein wenig blöd, oder was? Ich sag: Du sollst mich nicht angucken!“
Jetzt guckte der Weiler nach unten, ich glaub, er hat sogar zu heulen angefangen. Da konnte ich mir das Ganze nicht länger geben. Ich rief:
„Ey, Schlotz, hast du keine Eier, oder was?“
Er drehte sich zu mir um und kam auf mich zu:
„Was hast du gesagt?“
Ich sagte es ihm noch einmal ins Gesicht:
„Ich frag dich, ob du keine Eier hast! – Bei Leuten in deiner Größe traust du dich so was nicht.“
Er stand jetzt vor mir:
„Willst du eine aufs Maul?“
„Ich glaub, dass du eine aufs Maul willst!“
Ich machte noch den letzten halben Schritt auf ihn zu. Er reckte seinen Kopf vor und ich presste meine Stirn gegen seine. Ich spürte, dass er Kraft hatte, aber ich hatte keine Mühe, ihm standzuhalten. Er verstärkte den Druck und ich tat dasselbe. Dabei sah ich ihm in seine stumpfen blauen Augen. Sein Atem roch nach Wurstbrot.
„Was jetzt, du Lutscher?“, sagte ich. „Los, hau zu! Komm, versuch’s!“
Seine Augen blitzten auf und ich sah, wie es ihn in der Faust juckte. Aber schon waren die anderen da und zerrten uns auseinander. Jetzt tat er so, als hätten sie ihn abgehalten:
„Lasst mich los, den mach ich fertig!“
Feigling! Er hätte locker zuhauen können. Und dann hätte ich ihn fertiggemacht, dort auf offener Straße. Ich hätte ihn auf den Boden geworfen und ihm den Kopf eingeschlagen. Er riss an ihren Griffen und schrie weiter rum. Die Leute guckten schon alle, auch von der Bushaltestelle gegenüber. Dann gab er es auf. Bevor sie abzogen, rief er mir mit rotem Kopf zu:
„Wir sehen uns morgen beim Spiel!“
„Wir sehen uns morgen beim Spiel!“, wiederholte ich flüsternd seine Worte. Und ob wir uns morgen beim Spiel sahen!
Der Weiler kam zu mir, mit geröteten Augen:
„Danke!“
Er suchte nach Worten. Ich winkte ab.
„Lass gut sein“, sagte ich. „Geh nach Hause und vergiss es!“
„Ja“, sagte er und schaute sich nach den anderen um, aber sie waren weg. Ich gab ihm einen Klapps auf den Rücken und ließ ihn stehen. Mit diesem Gefühl musste er alleine klarkommen.
Dieser Hurensohn! Meine Wut kam erst im Bus. Seltsam. Warum hat mich das alles kalt gelassen, während es passierte? Und warum machte es mich nun im Nachhinein so rasend? Ich stand zwischen all den Leuten im Bus und atmete heftig. Und als ich die Wohnungstür aufschloss, raste mein Herz immer noch. Ich warf meinen Rucksack in die Ecke, stieß einen Schrei aus und schlug in die Jacken am Kleiderhaken. Was für ein feiger Hurensohn der Schlotz war! Ich beobachtete ihn schon lange. Immer suchte er sich Kleinere aus, dieser hässliche Bauer. Aber morgen war er dran! Mein Ellenbogen krachte an den Türrahmen. Er hatte nichts drauf, da war ich mir sicher. Die einzige Frage war, wie ich ihn umhauen wollte. Wichser, du hast dich mit dem Falschen angelegt! Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, ging ich Wäsche aus dem Keller holen und rief dann Sophie an. Wir waren seit etwa einem Dreivierteljahr zusammen, hatten uns seit Calella aber erst ein paar Mal wiedergesehen. Sie wohnte in der Nähe von Freiburg, nicht weit von der französischen Grenze weg, und außerhalb der Ferien war es fast unmöglich, sich zu besuchen. Ich hatte zwar seit Kurzem den Führerschein, aber meine Mutter besaß kein Auto. Und Sophies Eltern wollten sie die Strecke nicht allein fahren lassen. So war es alles schwierig mit uns. War ich bei ihr oder sie bei mir, klebten wir den ganzen Tag aneinander und sie war nett und machte Witze und kuschelte sich dauernd an mich. Aber nach ein paar Wochen mit dieser verfickten Telefoniererei kam sie mir dann irgendwie immer abgewandter vor, bis wir uns das nächste Mal in den Arm nehmen konnten und alles wieder gut war. Ich hatte sogar schon mal den Verdacht, dass sie vielleicht dort unten einen anderen hatte. Hab sie das auch mal gefragt. Aber sie meinte, ich wäre wohl verrückt – ihr würde nur die Distanz zu schaffen machen. Der letzte Besuch war jetzt schon wieder Wochen her und bis zu den Sommerferien war es auch noch fast einen Monat hin. Die letzten Tage spürte ich förmlich, wie sie immer weiter von mir wegrückte.
„Hi, Babe!“
„Na du, wie war die Schule?“, fragte sie.
Ich erzählte ihr, was an der Bushaltestelle geschehen war.
„Ist dir was passiert?“, fragte sie.
„Nein.“
„Ist dieser Schlotz immer so?“
„Ja.“
„Und warum hat er sich genau diesen Weiler vorgenommen?“
„Na, weil der ein kleiner Nerd ist.“
„Aha. Was ist denn ein kleiner Nerd? Kann ich mir nichts drunter vorstellen.“
„Ach komm, das weißt du doch. Ein Nerd halt“, sagte ich.
„So wie mein Bruder?“
„Keine Ahnung, ja, vielleicht. Was weiß ich, kenne deinen Bruder ja kaum.“
„Und du bist ein cooler Typ, oder was, weil du dich gern prügeln willst?“
Ich spürte, wie die gerade erst abgeebbte Wut wieder in mir aufflammte.
„Was soll das? Hast du mir nicht richtig zugehört? Der Schlotz hat den Weiler vor allen gedemütigt, kann man schon sagen. Der hat geheult! Und ich hab ihm geholfen. Wo genau wollte ich mich da gern prügeln?“
„Du rennst also jeden Tag zu diesen Proleten, weil dir das alles nicht den geringsten Spaß macht oder was?“
„Jetzt fang nicht wieder damit an! Ich gehe da erstens nicht jeden Tag hin, sondern höchstens drei, vier Mal die Woche. Wenn überhaupt. Öfter geht überhaupt nicht wegen Fußball. Und was ist bitte falsch daran, wenn man sich verteidigen kann?“
„Ich finde Gewalt einfach schrecklich.“
„Ja, aber nur weil man etwas schrecklich findet, ist es noch nicht aus der Welt.“
„Mir ist noch nie was passiert.“
„Weil du auf dem Dorf wohnst. Was soll dir da schon passieren? Außer dass dich ein Traktor überfährt.“
„Hier gibt es auch Streits.“
„Worüber reden wir eigentlich grade?“
„Ich will nicht, dass du da morgen hingehst.“
„Bist du jetzt völlig verrückt? Warum das denn?“
„Weil du dich dann prügelst.“
„Nicht unbedingt.“
„So hast du es mir doch grade selbst erzählt.“
„Gut, selbst wenn. Der Typ hat nichts drauf. Ich will ihm nur eine kleine Lektion erteilen, das ist alles.“
„Darum geht es doch gar nicht. Gewalt ist immer hässlich, egal in welcher Form. Ich will keinen Freund, der ein Schläger ist.“
„Man ist doch kein Schläger, nur weil man sich verteidigt.“
„Du hast ihn doch auch provoziert.“
„Bitte was?“
„Du hast diesen Schlotz doch auch provoziert.“
„Das fasse ich jetzt nicht! Ich hab ihn provoziert? Es wäre also besser gewesen, sich das alles weiter einfach nur anzusehen?“
„Du hättest auch hingehen und ihm in Ruhe erklären können, warum sein Verhalten nicht angebracht ist.“
„Nicht an… Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt? Was glaubst du denn, warum der Typ sich so verhält? Weil man ihm so gut Sachen erklären kann? Das ist eine Weichbirne.“
„Dass du so über deine Mitmenschen redest, macht mich traurig. Der hat es bestimmt zu Hause sehr schwer und findet keine andere Sprache, um sich mitzuteilen.“
„Zu Hause sehr schwer? Der Vater fährt ne S-Klasse und hat einen Riesenbaustoffhandel. Vielleicht sind das sogar Millionäre. Willst du mich verarschen? Sehr schwer?“
„Geld macht nicht glücklich.“
„Sag mal, hast du eine Packung Glückskekse gegessen, oder was? Was willst du eigentlich von mir?“
„Ich will, dass du nicht zu diesem Spiel gehst.“
„Das ist ausgeschlossen. Wir sind morgen nur dreizehn und für meine Position gibt es keinen Ersatz. Soll der Trainer einen Stürmer in die Abwehr stellen, oder was? Nur, weil du jetzt plötzlich Mutter Theresa spielst?“
„Ich will nicht mit einem Schläger zusammen sein. Gewalt macht mir Angst. Und du machst mir langsam auch Angst.“
„Come on! Bist du high? Geht‘s vielleicht noch ne Spur grösser? Angst! Jetzt hört’s aber mal auf!“
„Weiss ich, ob du irgendwann mir nur mal ne kleine Lektion erteilen willst?“
„Du spinnst doch! Das machst du immer. Du nimmst irgendeine Aussage von mir und setzt sie in einen ganz anderen Zusammenhang und argumentierst dann einfach von dort weiter, als sei das der Punkt der Diskussion gewesen.“
„Du hast mir doch von deinem Vater erzählt.“
„Was hab ich?“
„Du hast mir doch erzählt, wie dein Vater war.“
„Erstens ist mein Vater, ja? Der Gute lebt noch. Und zweitens habe ich bestimmt nie erzählt, dass er meine Mutter oder sonst irgendeine Frau geschlagen hat, weil er das nämlich ganz sicher nie gemacht hat.“
„Man zieht so ein Verhalten nicht an der Haustür aus wie seine Schuhe.“
„Was redest du da? Ich versteh überhaupt nicht mehr, was du redest. Ist mir aber auch egal. Ich spiele morgen und wenn mir der Schlotz noch mal so blöd kommt wie vorhin, dann fängt er sich richtig eine. Basta!“
„Ich will nicht mit einem Schläger zusammensein.“
„Ich bin kein Schläger! Aber ist mir auch egal, wie du hier alles verdrehst. Ich tue, was mir passt!“
„Mich macht das alles traurig.“
„Jetzt kommt wieder die Mitleidstour. Ich leg jetzt auf! Tschüss!“
Ich drückte sie weg, ohne ihre Verabschiedung abzuwarten. Meine ganze Wut war wieder da. In der Küche schlang ich zwei Bananen runter und kippte einen Proteinshake hinterher, packte dann meine Sportklamotten und fuhr mit dem Rad zum Studio, das in einem Gewerbegebiet nicht weit von unserer Wohnung weg lag. Wie immer war dort am Nachmittag rein gar nichts los. Nur Andi drosch halbnackt auf einen der Sandsäcke neben dem Ring ein. Wir nickten uns zu. Sein Ochsenoberkörper war von kurz getrimmten Haaren überzogen und von einer Decke aus Schweiß, die im Licht der Leuchtröhren schimmerte. Er war ein Biest. Seine Schultern waren groß und rund wie Handbälle und sein Nacken sah aus, als hätte man ihm zwei Schweinefilets auf die Schlüsselbeine geklebt. Ich wusste nicht, was er sich alles reinpfiff, aber eines war klar: Es schlug sehr gut an. Bei jedem Schlag ächzte er auf und aus blitzschnellen Hüftdrehungen abgefeuerte Low-Kicks trafen das Leder wie Geschosse. Dass eines seiner Beine kürzer war als das andere, merkte man jetzt nicht. Als ich noch ganz neu im Studio war, fragte er mich mal, ob ich mit ihm trainieren wollte. Ich sagte ja, weil ich dachte, ich könnte schon ein bisschen was. Das war ziemlich dumm von mir. Nach drei Tritten auf meinen Oberschenkel musste ich abwinken. Diagnose vom Arzt: Bluterguss unterm Quadriceps. Zwei Wochen dauerte es, bis ich das Bein wieder schmerzfrei ausstrecken konnte. Erst später habe ich erfahren, warum er so hart zur Sache ging: Andi war Türsteher auf der Amüsiermeile, so gesehen ging es bei ihm um Leben und Tod. Umso krasser, dass er mich mittlerweile nicht mehr verdreschen konnte. Wenn wir auf die Matte gingen, lagen wir nach zehn Sekunden ineinander verkeilt auf dem Boden und versuchten, uns die Gliedmaßen umzudrehen. Klar, gewann am Ende stets er, doch ich hielt ihm immer länger Stand. Ein Sieg rückte ganz langsam in Reichweite. Er bemerkte das auch. Neulich meinte er zu mir:
„Bleib dran, du bist auf einem guten Weg.“
Ich glaube, er sah mich als so etwas wie seinen Schützling an, wobei ich nicht wusste, wie ich das finden sollte. Denn er war schon ziemlich hängengeblieben auf den ganzen Rambo-Scheiß. Er redete nur vom Training oder erzählte von Situationen an der Tür, wie er zugekoksten Türken die Nase zertrümmerte und sie trotzdem immer weiter auf ihn einstürmten, weil sie keinen Schmerz spürten. So was. Auch sein Aussehen war völlig drüber. Also nicht nur sein Tschernobyl-Körper, auch sein Look: Von seiner Schulter zog sich ein Tribal den Hals hoch und seine Haare hatte er bis auf einen Millimeterschnitt auf der Schädeldecke abrasiert. Und dann rannte er ständig in schwarzen Cargo-Hosen und klobigen Sicherheitsschuhen rum und quatschte irgendwas von Quarzhandschuhen und praktischen Taschen für seinen Totschläger. Er tat wirklich alles, um wie eine Kampfmaschine rüberzukommen. Schon peinlich. Für die anderen schweren Jungs im Studio war er darum auch eine Lachnummer. Hinter seinem Rücken verarschten sie ihn und sagten, dass er Teenie-Mädchen fickte. Sie hielten sein hartes Getue für Show. Und vielleicht hatten sie recht, ein Player schien Andi nicht zu sein. Während die meisten von den anderen in dicken Karren vor dem Flachbau vorfuhren, kam er mit einem tiefergelegten Civic an.
Ich kramte das Springseil raus und machte mich warm. Nach ein paar Minuten zog auch ich mein T-Shirt aus. Ich beobachtete meine Bewegungen im Spiegel, achtete auf eine gerade Haltung. Meine Brustmuskeln hüpften bei jedem Sprung mit. Ich drückte jetzt hundertfünf und spürte, dass es bald weiter hochgehen würde. Andi meinte mal, ich hätte eine gute Genetik, viele weiße Fasern. Er kam zu mir und streckte mir seine bandagierte Faust entgegen.
„Alles klar bei dir, Jung?“
Ich schlug mit meiner Faust dagegen:
„Wie man’s nimmt.“
„Was ist los?“
„Ärger mit einem aus meiner Schule. Der hat vorhin so einen kleinen Opfertypen geohrfeigt, da hab ich mich eingemischt. Dann gab’s Palaver, pipapo. Am Ende ist nichts groß passiert, weil Leute dazwischen sind.“
Er grunzte und da ich nicht genau wusste, was ich davon halten sollte, schob ich hinterher:
„Aber morgen Nachmittag spielen wir gegen seine Mannschaft … Derby bei Grün-Weiß. Da werd ich das klären.“
Er runzelte die Stirn und sah mich an. Seine stahlblauen Augen waren klein wie Nadelköpfe. Überhaupt war alles in seinem Gesicht, bis auf seinen Kiefer, klein, fiel mir auf: Seine Nase mit den blassen Sommersprossen war klein, seine Lippen waren klein und seine Ohren waren klein. Ja, sein ganzer Kopf war klein oder wirkte zumindest im Vergleich zu seinem Körper so.
„Was ist das für ein Knallkopp?“, fragte er.
„Ach, irgend so ein Bauer. Is zwar groß und kräftig, aber träge. Hat nichts drauf, das weiß ich. Das eigentliche Problem ist auch nicht er, sondern meine Freundin.“
„Was hat die damit zu tun? Hat er sie angemacht?“
„Nein, die wohnt ja gar nicht hier. Ne, die macht Stress, weil sie nicht will, dass ich mich mit ihm schlage. Sie meint ernsthaft, ich hätte einfach ruhig mit ihm reden sollen. Frauen!“
Er fletschte die Zähne:
„Generell hat sie nicht ganz unrecht. Fünfundneunzig Prozent aller Konflikte regle ich verbal. Wenn nicht grade ein zugekokstes Ölauge vor dir steht, kannst du eigentlich mit allen reden. Du musst natürlich klarmachen, dass das nur ein nettes Angebot von dir ist.“
„Also meinst du auch, ich hätte das anders lösen können?“
„Das mit dem Typen an der Bushaltestelle?“
„Ja.“
„Ne, ne, der hat es ja drauf angelegt. Da hilft nur: Eins auf die Glocke, zeigen, wo’s langgeht. Wenn einer Streit sucht, muss man ihm den Gefallen auch tun.“
„Eben, genau so sehe ich das auch!“
„Gewalt ist ultima ratio, letztes Mittel.“
Ich wunderte mich: Andi und Latein? Der Kerl wurde immer seltsamer. Er fuhr fort:
„Aber das Mittel kann nie ohne den Zweck gedacht werden. So steht es bei von Clausewitz. Und du wolltest ihm ja zeigen: So nicht, Freundchen! Das war der Zweck. Den erreichst du nicht auf die Plaudertour.“
„Wer ist von Clausewitz?“
„Ein General. Hat ein berühmtes Buch über Kriegsführung geschrieben.“
Mir fehlten kurz die Worte. Das hatte ich nicht kommen sehen. Ich malte mir aus, wie Andi mit einer Pfeife im Mund im Lehnstuhl saß und ein Buch mit Ledereinband studierte, um sich auf seinen Kampf gegen zugekokste Türken und sonst wen einzuschwören, und musste schmunzeln. Er legte noch einen drauf:
„Du musst ganz am Anfang die Entscheidung treffen – kämpfe ich oder nicht? Die Samurai haben gesagt: Innerhalb von sieben Atemzügen musst du dich entscheiden. Und dann musst du dabeibleiben – auch wenn das am Ende deinen Tod bedeutet.“
„Ghost Dog, der Weg der Samurai“, lachte ich.
„Was?“
Sein Blick durchbohrte mich.
„So ein Film … Egal! Hast du auch noch einen etwas weniger folgenschweren Tipp für morgen?“
Er begann, seine Bandagen abzuwickeln.
„Versuch, cool zu bleiben. Anspannung macht müde. Du atmest flacher, deine Muskeln verbrauchen mehr Sauerstoff und du merkst es nicht. Das ist tückisch, vor allem, wenn du lange auf einen Kampf warten musst. Junge Boxer haben oft dieses Problem und kommen schon völlig platt aus der Kabine, weil sie so nervös waren. Der Typ macht nichts, sagst du? Kein Boxen, kein Karate, nichts?“
„Nicht, dass ich wüsste. Weiß nicht, ob er früher mal was gemacht hat, aber glaub nicht. Ist nur ziemlich groß und kräftig, wie gesagt.“
„Gut, dann pass auf seine Beine auf, mit denen kann er ja zumindest halbwegs umgehen, wenn er Fußball spielt. Ansonsten mach dir klar: Er nicht sieht, was du siehst. Für ihn sind alle Techniken, die wir hier trainieren, Chaos. Er kann also gar nicht anders, als reflexhaft zu reagieren. Nutz das aus! Stell ihm Fallen! Stell ihn dir zurecht! Und wenn alles passt, machste Schluss. Aber übertreib es nicht! Kann böse ausgehen. Reicht, ihm eine Kostprobe zu geben. Am besten nimmst du ihn in einen Würger und lässt ihn zappeln. Und wenn er nicht spurt, drückst du fester zu. Glaub mir, sobald er realisiert, dass du sein Leben in den Händen hältst, scheißt er sich ein.“
Ich grinste:
„Ok.“
„Und pass auf, dass keiner zuschaut. Wenn du vor allen Augen den Van Damme spielst, hast du vielleicht am Ende ne böse Anzeige am Hals, selbst wenn er angefangen hat. Für dich gelten andere Regeln, weil du hier angemeldet bist.“
„Ich versuch’s, danke für die Tipps.“
„So, ich muss! Wann geht’s los?“
„Das Spiel fängt um zwei an.“
„Genug trinken! Wird wieder heiß. Und lauf dich nicht kaputt!“
„Ja, ich muss genug im Tank lassen.“
Er griff sich seine Sporttasche.
„Du machst das schon!“
Hinkend verließ er den Mattenraum. Ich sprang ein paar Minuten Seil, um wieder warmzuwerden. Dann stellte ich mich an einen der Sandsäcke und übte ausweichen, reinsteppen, Schlag, ausweichen, reinsteppen, Schlag, immer wieder ausweichen, reinsteppen, Schlag. Danach rammte ich noch ein paar Mal meine Knie ins Leder und ging duschen. Mein Ärger war abgeklungen und ich wollte mich nicht verausgaben.
Meine Mutter war schon zu Hause. Sie stand in der Küche und bestrich ein Brett voller Rouladen mit Senf. Ich legte ihr einen Arm um die Schulter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Wie war dein Tag?“, fragte sie.
„Normal. War grad im Studio.“
„Hast du Hunger? Ich mach Rouladen.“
„Ja, das sehe ich“, lachte ich.
„Hast du die Wäsche aus dem Trockner geholt?“
„Hochgeholt, gefaltet und weggeräumt.“
„Danke, Schatz!“
Ich nahm mir aus dem Kühlschrank eine Dose Cola.
„Die sind bestimmt noch nicht kalt“, sagte sie.
„Haben wir Eis?“
„Musst du gucken.“
In einer der Plastikformen im Eisfach fand ich noch ein paar Würfel und ließ sie in ein Glas fallen. Ich goss die Cola drüber und sie schäumte hoch. Ich trank schnell ab. Meine Mutter schnitt eine dicke Gewürzgurke in Scheiben.
„Machst du auch noch mal die mit Kohl? Die hat Oma immer gemacht.“
„Kann ich machen. Aber jetzt gibt’s erst mal die.“
„Ja, die sind auch gut.“
Sie rollte die Rouladen zusammen und steckte Zahnstocher hinein.
„Was gibt’s dazu?“
„Was willst du, Reis oder Kartoffeln?“
„Kartoffeln, Reis ist voller Arsen. Und der weiße hat außerdem kaum Ballaststoffe, weil die Schale ab ist. Der braune ist besser.“
„Als du klein warst, musste es immer der weiße sein.“
„Ja. Aber da hab ich auch noch nicht gewusst, was gesund ist.“
„So, so. Und deine Cola steckt voller Vitamine, richtig?“
Sie griff in eine der Einkaufstaschen, die an der Tür lehnten, und zog einen Sack Kartoffeln heraus.
„Einmal schälen, bitte! Oder willst du die auch lieber mit Schale haben?“
„Ne, nicht zu Rouladen.“
„Und kannst du bitte danach noch die Taschen auspacken?“
„Klar.“
Ich machte mich an die Arbeit und die Kartoffelschalen begann sich vor mir auf dem Tisch zu häufen.
„Du, sag mal, Papa ist doch manchmal ziemlich ausgerastet, oder? Also, ich meine, als er so in meinem Alter war oder ein bisschen älter.“
„Als junger Mann soll dein Vater ein Hitzkopf gewesen sein, ja. Wenn der rot gesehen hat, hat die halbe Insel gezittert. Der war berüchtigt für seinen Jähzorn.“
„Erzähl mal was“, bat ich sie, obwohl sie mir schon ein paar Mal davon erzählt hatte.
„Was soll ich erzählen?“
„Was dir einfällt.“
„An eine Situation kann ich mich erinnern, da war ich sogar dabei. Da hat er grad am Hafen die Straße gefegt, als …“
Ich merkte auf, diese Geschichte kannte ich noch nicht.
„Warum hat er am Hafen die Straße gefegt?“
„Vor dem Laden von Onkel Stelios, da hat dein Vater damals ausgeholfen. Das war zu der Zeit, als wir uns kennengelernt haben.“
„Ok. Was ist passiert?“
„Also, dein Vater hat gefegt, da kommt ein Tourist vorbei, so einer von den Yacht-Heinis, weißt du? Er bleibt stehen und sagt zu deinem Vater auf Englisch: ‚I think you forgot something!‘ Und dann wirft er ihm eine leere Zigarettenschachtel vor die Füße.“
„Einfach so?“
„Ja, einfach so. Er hat deinen Vater wahrscheinlich angesehen und gedacht, mit dem kann man’s machen. Du weißt ja, wie er immer rumgelaufen ist.“
Ich grinste, weil ich mir schon ausmalen konnte, was ungefähr kommen würde.
„Und, was ist dann passiert?“
„Dein Vater hat den Kerl am Kragen gepackt und ihn kopfüber in einen Müllcontainer gesteckt.“
„Nein!“
„So wahr, wie ich hier stehe. Der hatte ja eine Kraft durch die ganze körperliche Arbeit, das war unglaublich.“
„Und dann?“
„Fängt er wieder an zu fegen. Hat kein Wort gesagt. Die Leute haben sich kaputtgelacht.“
„Und der Typ?“
„Den haben wir nicht wiedergesehen.“
„Also war der Papa nicht brutal oder so, selbst wenn er ausgerastet ist?“
„Als ich ihn kennengelernt habe, hatte er sich ganz gut im Griff. Aber in seiner Jugend hat er wohl mal einen ziemlich heftig zusammengeschlagen. Da ist sogar Blutgeld geflossen, wenn ich das richtig verstanden habe. Genau wissen wollte ich das aber ehrlich gesagt gar nicht.“
„Blutgeld?“
„Ja. Das wurde damals an die Familien von Opfern gezahlt als Entschädigung. Du musst dir vorstellen, Griechenland vor dreißig, vierzig Jahren, das war eine andere Welt. Im Hinterland hatten die Leute nicht mal fließend Wasser. Da wurde ja teilweise noch mit Vieh bezahlt. Das war ein Leben, wie wir es uns heute gar nicht mehr vorstellen können.“
„Aber dich hat er nie geschlagen?“
„Mich? Nein! Das hätte er mal versuchen sollen. Ha! Da wäre ich aber direkt weg gewesen. Nein, nein, nein, so was hätte er auch nie gemacht. Es gab sogar mal einen Riesenfamilienkrach, als Onkel Stelios Irini eine gelangt hat. Da ist dein Vater zu ihm und hat gesagt: Wenn du das noch einmal machst, dann gibt’s richtig Ärger mit uns! Aber sein Vater, dein Opa, der hat deine Oma wohl ab und an mal vertrimmt. Ich schätze, deshalb hat dein Vater so was überhaupt nicht abgekonnt. Nein, das hätte er nie gemacht!“
„Und was hast du davon gehalten, wenn er so sich einen wie den Touristen vorgeknöpft hat?“
„Den? Der hatte es doch nicht anders verdient. Arroganter Drecksack!“
„Aber hätte Papa nicht einfach mit ihm reden können?“
„Wenn der schon so was macht? Da hat er Glück gehabt, dass er nur in der Mülltonne gelandet ist.“
„Also findest du Gewalt manchmal angebracht?“
„Sag mal, was ist denn heute los? Was sind das denn für Fragen?“
„Haben heute in der Schule über so was gesprochen und sollten uns dazu mal umhören.“
Sie überlegte.
„Weißt du … Wie soll ich sagen? Die Welt ist nicht immer ein schöner Ort. Und manchmal geht es nicht anders. Sonst trampeln alle auf dir rum. Zumindest bei euch Männern ist das so. Wir Frauen haben es da etwas leichter. Dafür haben wir ganz andere Probleme.“
Sie blickte ins Leere. Dann sagte sie:
„Fahr ihn doch noch einmal besuchen, Schatz!“
„Wann denn? Im Sommer fahre ich zu Sophie.“
„Vielleicht nach dem Abi. Du könntest länger hin und endlich die Sprache lernen.“
„Ja, mal sehen.“
Sie legte die Rouladen in die Pfanne. Es zischte und der Geruch von Öl und Fleisch zog zu mir rüber.
Als ich später im Bett lag, konnte ich nicht einschlafen. Immer wieder sah ich die Situation an der Bushaltestelle vor mir ablaufen. Schlotz‘ Stirn an meiner, hart und heiß. Seine Augen so nah, dass sie mir direkt ins Hirn zu schauen schienen. In ihnen blinde Wut. Und Schwäche. In meinem Kopf lief die Szene weiter. Ich gab ihm eine Kopfnuss, Blut strömte ihm übers Gesicht. Ich rammte ihm mein Knie in die Weichteile und sah ihn zusammensacken. Dann trat ihm mit voller Wucht in den Bauch, sodass er sich vor meinen Füssen krümmte und wimmerte. Zum Schluss spuckte ich ihm noch ins Gesicht: „Genug? Du Haufen Scheiße!“ Nein, ich hatte keine Angst vor ihm. Ich wusste, dass ich ihn locker packen würde. Aber wollte ich das überhaupt noch? Mir waren schon am Nachmittag erste Zweifel gekommen. Nicht wegen Sophie. Sie konnte mich mal. Hatte nicht mal auf meine Gute-Nacht-Nachricht geantwortet. Nein, ich fragte mich, ob ich Schlotz so weit überlegen war, wie er dem Weiler überlegen war. Nur, dass der Schlotz anders als der Weiler nichts von seiner Chancenlosigkeit wusste. Das machte ihn stärker, als er in Wahrheit war. Dem Weiler täte so eine Verblendung mal gut. Hätte er richtig giftig reagiert und dem Schlotz direkt zwischen die Beine getreten, noch bevor der sich vor ihm aufbauen konnte, der Schlotz hätte keinen Stich mehr gehabt. Aber auf diese Idee wäre der Weiler im Traum nicht gekommen. Und darum war er ein Opfer, nicht weil er kleiner und schwächer war. Der König bei uns im Studio war vielleicht einssiebzig groß und sah in Alltagskleidung aus wie ein Schuljunge. Aber alle kuschten vor ihm, weil es hieß, dass er völlig verrückt war. Storys, wie er Leuten Flaschen, Regenschirme oder andere gerade greifbare Gegenstände über den Kopf zog, machten immer wieder die Runde. Und ich denke, für den Fall der Fälle hatte er auch noch andere Hilfsmittel im Handschuhfach seines Hummers liegen. Offensichtlich weigerte er sich schlicht und einfach, seine körperliche Unterlegenheit anzuerkennen. Schlotz war eher wie Andi, plusterte sich auf und versuchte, die Leute mit seiner Physis und irgendwelchen Äußerlichkeiten einzuschüchtern. Aber bei Leuten mit dem richtigen Blick zog das nicht. Darum war Andi auf der Bühne der Großen nur eine Witzfigur und darum konnte ich über Schlotz nur lachen. Aber er muckte ja auf, das war das Problem. Würde Schlotz einfach nur in seinem Größenwahn durch die Gegend gockeln und andere Leute in Ruhe lassen, hätte ich mich ja gar nicht um ihn scheren brauchen. Doch er hatte es ja drauf angelegt. Das ging nicht klar!
Irgendwann schlief ich doch ein. Ich wachte fahrig auf und bekam nicht so viel vom Müsli runter, wie ich an Energie brauchen würde. Nach dem Frühstück tigerte ich nervös durch die Wohnung. Ich dachte an Andis Tipp: cool bleiben – aber so recht gelang es mir nicht. Erst als ich mich vor die Glotze hockte und mir ein paar Sitcoms reinzog, wurde es besser, bis das Pendel zu weit in die andere Richtung ausschlug. Ich wurde müde und fühlte mich abgespannt. Die nahende Begegnung mit Schlotz erschien mir nun unwirklich und absurd. Gerne hätte ich noch mal mit Sophie gesprochen, aber sie reagierte immer noch nicht auf meine Nachrichten. Und als ich sie anrief, ging sie nicht ran. Dann war es Zeit. Gegen eins stieg ich aufs Rad. Ich hatte dem Trainer geschrieben, dass ich selbst zum Platz von Grün-Weiß kommen würde und nicht mit dem Mannschaftsbus. Ich wollte in meinem Tunnel bleiben und mich nicht von den anderen durcheinanderbringen lassen. Auf dem Weg hörte ich den härtesten Scheiß, den mein MP3-Player zu bieten hatte: Slipknot, Pantera, Rammstein und solche Sachen. Und es wirkte: Ich kam wieder unter Spannung, die Zweifel wichen. Als ich den Platz erreichte, wäre ich am liebst direkt mit Schlotz in einen Ring geklettert, um ihm die Fresse zu polieren. Aber erst musste ich ja noch durch das Spiel durch. Normalerweise hätte ich mich auf die Partie gefreut, denn ich war nur noch wegen der Spiele im Verein. Am meisten liebte ich die Abendspiele im Winter, wenn der Platz steinhart war und man beim Rumstehen dampfte. Diese Spiele in tiefster Nacht waren das Größte für mich. Der Platz wurde vom Flutlicht erhellt, um ihn herum war alles schwarz. Und auf dieser Insel aus Licht wurde um Sieg und Niederlage, Heldentum und Blamage gerungen, ein rostrotes Paralleluniversum. Doch seit ich auch ins Studio ging, wo Bilder von Giganten an den Wänden hingen und Kickbox-WM-Pokale in der Vitrine standen, verblasste der Reiz des Fußballs immer mehr. Denn dort, im Boxraum auf der Matte war alles irgendwie wirklicher: Man kämpfte, bis man kotzte oder vor Erschöpfung zitterte. Und alles war dort so nah, so direkt: Haut klebte an Haut, Muskeln zerrten an Muskeln, Füße trafen nicht auf Leder, sondern auf Fleisch. Und in jedem Moment musste man sich ganz alleine neu entscheiden: Kämpfe ich weiter oder gebe ich auf? Ich war bekannt dafür, dass ich nur abschlug, wenn meine Sehnen wirklich kurz vorm Reißen und meine Knochen kurz vorm Knacken waren. Ansonsten machte ich immer weiter, auch dann, wenn mir einer die Kehle zudrückte und ich keine Luft mehr bekam. Mir machte diese Lage keine Angst, im Gegenteil, ich empfand in ihr so etwas wie Frieden. Denn wenn es erst mal so weit war, dass man gewürgt wurde, konnte man nichts weiter tun, als sich zu entspannen. Man konnte nur abwarten, was passierte: Entweder man schlief ein oder der Griff wurde langsam schwächer und es kam wieder Luft durch. Erst nur ein bisschen. Dann immer mehr. Und irgendwann war der Griff des Gegners erschlafft. Man atmete wieder durch. Jetzt hieß es: Die eigenen Muskeln anspannen und seine Finger lösen. Und sofort war alles anders. Alles war jetzt wieder offen und man selbst war jetzt im Vorteil, denn der andere war ausgeblutet und trug an seinem Scheitern. Und mit etwas Geschick legte man bald den Arm um seinen Hals, um mit ganzer Kraft zuzudrücken und sein Licht auszuhauchen. Wer war Schlotz auf diesem Kampfplatz? Ein niemand!
Doch dann wendete sich das Blatt: Unter der hochstehenden Mittagssonne stand ich auf dem staubigen Parkplatz und wartete auf meine Mannschaft. Da sah ich Schlotz mit einer ganzen Horde auf mich zumarschieren. Vorneweg, direkt neben ihm, lief ein großer Glatzkopf, der trotz der Hitze einen Londsdale-Pullover trug. Hinter den beiden folgten fünf Typen, die auch nicht aussahen, als kämen sie wegen der Brühwürstchen und einer gepflegten Sportspartie. Mit Herz begann zu hämmern und ich spannte meinen ganzen Körper an. Doch sie liefen an mir vorbei. Jeder einzelne von ihnen stieß mir seinen Blick in die Augen und Schlotz und der Glatzkopf grinsten mich höhnisch an.
„Nach dem Spiel!“, sagte Schlotz.
Ich schluckte und mir zog es den Hals zu. Aber dann riss etwas in mir. Ich rief Schlotz laut hinterher:
„Hast du auch deine Mami mitgebracht? “
Er drehte sich um und grinste noch immer. Dann strich er mit seinem Daumen über seine Kehle. Ich lächelte.
Unser Mannschaftsbus fuhr auf den Parkplatz und wir gingen in die Gästekabine. Während wir noch dabei waren, die Stutzen zurechtzurücken und die Schuhe zu binden, begann unser Trainer mit seiner Ansprache:
„Jungs … Jungs … Jungs, hört mir mal zu. Jetzt … Jetzt mal Ruhe hier. Ich rede jetzt! Jungs, ihr wisst, das ist heute ein Derby, da wollen wir uns nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Die haben einige gute Leute dabei, besonders der Zehner, der ist pfeilschnell. Marco, dem zeigst du direkt mal was Sache ist, hart, aber herzlich. Und danach stehst du dem Schwarzfuß auf den Füßen. Der geht nicht mal pinkeln ohne dich, verstanden? Aber immer fair bleiben. Wir wollen hier keine Rote kassieren, klar? Nächste Woche geht’s gegen die Arminia, die sind auf dem zweiten, da haben wir auch noch Chancen. Also keine Ausfälle, klar? So, dann der Brocken, den die vorne drin haben, der Neuner. Der hat uns letztes Mal drei eingeschenkt. Das passiert uns dieses Mal nicht. Chris!“
Er sah mich an und zwinkerte mir zu. „Zeig ihm, wo der Barthel den Most holt.“
Ich hob die Hand:
„Ja, Trainer, gut, dass du es ansprichst. Also, es kann sein, dass es da Ärger geben wird.“
„Was heißt das?“
„Der ist bei mir in der Stufe und gestern gab‘s ein bisschen Palaver.“
„Lass dich nicht provozieren, bleib sauber! Gesunde Härte ist ok. Aber ich will hier keinen Ärger, verstanden? Hab schon gesehen, was da für eine Asi-Truppe paratsteht. Das können wir nicht gebrauchen, wir sind hier zu Gast. Also: Bleib cool, setz deine Duftmarken, aber lass dich auf nichts ein. Verstanden?“
„Ja“, murmelte ich und er hakte nach:
„Ich mein´s ernst, Chris. Ich will hier keine Scheiße sehen! Wir sind hier beim Fußball, nicht auf der Kirmes. Das geht übrigens an alle: Wer sich auf dem Platz kloppt, fliegt sofort raus. Ist das klar?“
Alle nickten und ein paar schauten zu mir rüber. Ich senkte den Kopf und dachte über die Worte des Trainers nach.
Wir liefen auf. Ich nahm meine Position ein, linker Sechser, wodurch ich nur einen Steinwurf von Schlotz’ Leuten entfernt stand, die sich an der Werbebande aufgereiht hatten. Ich warf ihnen einen grimmigen Blick zu und ein paar von ihnen zeigten mir den Finger und riefen Beleidigungen in meine Richtung. Ich grinste sie an und packte mir in den Schritt. Der Schiri pfiff an. Die ersten Minuten passierte nicht viel, Geplänkel im Mittelfeld, zwei missglückte Pässe in die Spitze von Grün-Weiß, ein paar versandete Sturmläufe von uns. Dann überrannte ihr Linksaußen unseren Rechtsaußen und bolzte den Ball hart in die Mitte. Schlotz und ich sprinteten los. Er erreichte den Ball einen Wimpernschlag vor mir. Ich stieß mich mit dem linken Bein ab und grätschte ihn mit rechts um. Er schrie auf und ich fühlte, wie sich die kleinen Steinchen in meinen Schenkel fraßen. Ich stand direkt wieder auf und hob die Hände, um klar zu machen, dass ich nur den Ball spielen wollte. Doch der Schiri kam schon mit der Gelben in der Hand angerannt.
«Letzte Verwarnung. Noch so ne Aktion und du fliegst!»
Ich schlug mir die Asche vom Bein und ging langsam ein paar Schritte rückwärts, um Schlotz im Auge zu behalten. Am Spielfeldrand sprang unser Trainer herum wie Rumpelstilzchen und brüllte mir zu:
«Hey! Hey! Bist du völlig bescheuert? Willst du sofort duschen gehen, oder was? »
Ich hob beschwichtigend eine Hand. Er rief nach Marco und drehte die Finger umeinander. Wir sollten die Seiten wechseln. Ich trabte auf die rechte Flanke, vorbei an Schlotz, der auf seinem Hintern saß und sich das Schienbein rieb. Er raunte mir zu:
«Du bist tot!»
Ich schürzte die Lippen und nickte. Er wiederholte:
«Du bist tot!»
Das Spiel ging weiter und ich hatte es jetzt mit dem Zehner zu tun, der zwar ein Federgewicht war, mir aber auf hundert Metern bestimmt zwei Sekunden abnahm, sodass ich ihm in einer Tour hinterherrennen musste. In Schlotz’ Nähe kam ich nur noch ein Mal bei einer Ecke. Auf die Flanke wartend presste ich meine Schulter gegen seine, er hielt dagegen und stampfte mir mit seinem Stollenschuh auf den Fuß. Ich schluckte ein Stöhnen runter. Der Ball stieg in die Luft und als er hochschaute, um sich zu postieren, revanchierte ich mich mit einem Ellenbogenstoß. Ich spürte seine Rippen nachgeben. Er ächzte und verpasste den Kopfball.
«Nach dem Spiel! Ich ficke dich!», zischte er.
Ich lachte und wich ihm aus, als er mir im Vorbeirennen eine mit der Schulter mitgeben wollte.
Dann war Halbzeit. Grün-Weiß ging in die Kabine, wir blieben draußen und versammelten uns um die Trainerbank, wo wir von einer der Mütter Sprudel mit Vitamintabletten bekamen. Ich trank gierig davon, denn mein Mund war staubig vom Aschestaub in der Luft. Der Trainer lobte unsere Leistung und schärfte uns ein, konzentriert zu bleiben. Auf Wechsel verzichtete er. Ich sah zu Schlotz‘ Truppe herüber, aber auch sie schienen Pause zu machen. Einige rauchten, die anderen schlenderten herum oder unterhielten sich. Ich schätzte sie ab. Der mit der Glatze hatte breite Schultern und definierte Waden, mehr gab seine Kleidung über ihn nicht preis. Ein weiterer Typ war ungefähr genauso groß und etwas bulliger. Doch sein Gesicht war schwammig und er wirkte träge. Ihn konnte ich erst mal vergessen. Die anderen waren mittelgroß und sahen ebenfalls aus wie Mitläufer, bis auf einen, der einen Kopf kleiner war als der Rest. Er hatte ein Rattengesicht und zurückgegelte, weißblonde Haare. Das war einer, auf den man aufpassen musste. Da war ich mir sicher. Allein, wie er die Kippe zum Mund führte. Schlotz, die Glatze und die Ratte, das waren die drei Köpfe, auf die ich zuallererst achten musste. Schlotz würde den Anfang machen, das war klar. Ich musste ihn umhauen, und zwar direkt. Gelang mir das nicht, war alles verloren. Nach ihm würden die Glatze und die Ratte ankommen, wahrscheinlich gleichzeitig. Ich würde die Glatze packen und mir die Ratte irgendwie mit einem Tritt vom Leib halten müssen, am besten in die Eier. Wenn mir bei der Glatze dann ein guter Griff gelang, konnte ich es schaffen. Kurz suhlte ich mich in dieser Fantasie, dann wurde mir klar, wie unrealistisch das alles war. Ich dachte an Videos von Hooligan-Schlägereien, die ich gesehen hatte. In ein paar Sekunden war alles entschieden, und zwar mit wilden Schwingern, gesprungenen Harakiri-Kicks und unkoordiniertem Gefuchtel. Wahrscheinlich würden sie sich alle zusammen auf mich stürzen und ich würde mich zusammenkauern müssen, um wenigstens noch meinen Kopf zu schützen, während sie auf mich eintraten. Mir wurde schlecht und ich ging wieder auf den Platz.
Anpfiff zur zweiten Halbzeit. Die Sonne stand jetzt nackt am Himmel und brannte den Schweiß in meine Haut. Ich rannte wieder dem Zehner hinterher und nach etwa zwanzig Minuten begannen meine Beine müde zu werden. Ich hatte nun immer mehr Mühe, ihn zu stellen, und irgendwann folgte das Unausweichliche: Er entwischte mir, bekam den Ball in den Fuß gespielt, tanzte unseren Innenverteidiger aus und legte ab auf Schlotz, der locker zum 1:0 einschob. Die Hände in die Seiten gestützt musste ich zusehen, wie Schlotz mit der gereckten Faust an mir vorbei lief. Natürlich drückte er mir einen Spruch und die Idioten auf der Tribüne sprangen rum wie eine Affenbande. Es ging weiter und Grün-Weiß zog sich nun weit zurück, um die Führung zu sichern und auf Konter zu lauern. Sie liefen allesamt über meinen Zehner und nach ein paar weiteren Sprintduellen war ich mit meiner Kraft am Ende. Hätten wir einen Ersatzmann für mich gehabt, hätte ich einen Wechsel verlangt. Aber es gab niemanden. Ich musste durchhalten. Was im Tank lassen, am Arsch! Ich war geliefert. Sie würden mich gnadenlos zusammenwichsen. Schlotz hatte mich ausgetrickst. Aus meiner Mannschaft war niemand als Verstärkung zu gebrauchen. Ich hätte auch sonst nicht gefragt – was hatten sie damit zu tun? Ich blieb jetzt nur noch in unserer Hälfte und vermied es, anspielbar zu sein, um wieder etwas zu Kräften zu kommen. Da sah ich einen breit gebauten Mann mit einem Hund in Richtung Platz laufen. Er hinkte. War das Andi? Ich behielt die Person im Auge und tatsächlich: Es war Andi mit einem Kampfhund an einer kurzen Leine. Was wollte der denn hier? War er gekommen, um mir zu helfen? Er blieb ganz am Anfang des Platzes stehen, beim Tor von Grün-Weiß. Ich konnte nicht mehr tun, als ihm mit der Hand einen kurzen Gruß rüberzuschicken. Er erwiderte ihn. Ich spürte, wie sich Euphorie in meiner Brust ausbreitete. Auch meine Beine wurden mit jedem Schritt wieder frischer und ich fand sogar die Kraft, noch einmal für einen Freistoß von uns mit nach vorne zu laufen. Ich stemmte mich gegen Schlotz, der die veränderten Verhältnisse noch nicht verstanden hatte. Er fragte mich:
„Na, haste die Hosen schon voll?“
Mir fiel kein Spruch ein und ich grinste ihm ins Gesicht.
„Ach, fick deine Mutter!“
Dann war Schluss. Die anderen schlenderten Richtung Kabine und ich ging zu Andi.
„Was machst du denn hier?“
„Bin mit Fighter eine Runde drehen.“
Ich sah auf den Hund, ein Pitbull oder Staffordshire, ich konnte die nicht unterscheiden. Und auch nicht leiden.
„Ein kräftiges Kerlchen.“
Der Hund legte den Kopf zur Seite und sah dumm zu mir hoch.
„Wohnst du hier in der Gegend?“
„Ja.“
Er nickte zur Tribüne, wo Schlotz mit seinen Leuten stand.
„Ist das der Tuppes?“, fragte er.
„Ja.“
„Aha.“
Ich wusste nicht, ob ich ihn auf sein Erscheinen ansprechen sollte. Sollte ich ihn fragen, ob er da war, um mir zu helfen? Die Frage kam mir dämlich vor. Andererseits war es doch Unsinn, dass er zufällig mit dem Hund vorbeigekommen war, mit „Fighter“. Was für ein Name! Der Typ hatte sie doch nicht mehr alle. Ich beschloss, einfach abzuwarten und mich bereit zu halten. Schlotz und die anderen hatten mittlerweile gecheckt, dass der Muskelberg zu meinem Team zählte, und sie schienen sich zu beraten. Dann machten sie endlich los und schritten auf uns zu, nicht Schlotz, sondern der Glatzkopf ging voran. Ich hatte keine Ahnung, wie das nun ablaufen sollte. Mein Herz schlug gegen meine Rippen und doch verspürte ich so etwas wie Vorfreude. Sie bauten sich vor uns auf. Schweigen. Niemand rührte sich, nur Blicke wanderten hin und her. Ich fixierte Schlotz und achtete darauf, meine Muskeln noch nicht anzuspannen. Erst wenn er zuckte, würde ich explodieren. Aber es war Andi, der sich als erster regte. Er nickte dem Glatzkopf zu und streckte die Hand aus:
„Wie geht’s deinem Bruder?“
Ich sah, wie es in dem Typen arbeitete. Dann klickte es scheinbar. Er machte einen Schritt nach vorne und schlug ein:
„Gut.“
„Grüß ihn mal von mir!“
„Mach ich.“
Wieder froren alle ein, aber nur einen Augenblick lang. Dann setzte sich der Glatzkopf in Bewegung und die anderen taten es ihm gleich. Ich musste mich zwingen, nicht zu verkrampften, als sie an uns vorbei gingen. Wieder brachte mich jeder einzelne von ihnen mit seinem Blick um. Schlotz raunte mir zu:
„Glück gehabt!“
Ich erwiderte:
„Du hast Glück gehabt“, und er lachte auf.
Auf dem Parkplatz standen sie noch ein paar Minuten zusammen, dann löste sich der Trupp auf. Ich fühlte mich zufrieden – einen besseren Ausgang hätte ich mir nicht wünschen können. Trotzdem spürte ich auch eine Leere in mir. Ich fragte Andi, woher er den Bruder kannte.
„Ehemaliger Arbeitskollege.“
Da im Endeffekt ja gar nichts passiert war, schien es mir seltsam, mich groß bei Andi zu bedanken. Außerdem wollte ich es nicht so aussehen lassen, als ob ich ohne ihn nicht klargekommen wäre. Also sagte ich:
„Cool, dass du vorbeigeschaut hast. Das nächste Mal musst du dir aber auch das Spiel angucken.“
Er ging nicht drauf ein und meinte nur:
„Wir sehen uns Dienstag.“
Wir gaben uns die Hand und er hinkte davon, Fighter trottete mit gesenktem Kopf neben ihm her.
Ich ließ alles kurz sacken und ging dann zur Kabine. Meine Mannschaftskameraden und die Jungs von Grün-Weiß waren schon fertig und kamen mir entgegen. Als ich wieder heraustrat, war das Vereinsgelände verwaist. Nur der Platzwart musste noch irgendwo rummachen, aber ich sah ihn nicht. Ich ging zum Parkplatz und rief Sophie an. Jetzt ging sie ran.
„Hi, ich bin’s.“
„Ja, das sehe ich.“
„Das Spiel ist jetzt vorbei.“
„Schön.“
„Ich kann dich beruhigen – es ist nichts passiert. War aber alles total crazy.“
„Aha.“
Ich wartete kurz ab und als sie nichts weiter sagte, erzählte ich ihr, was passiert war. Ich endete mit den Worten:
„Du siehst, es ist alles gut ausgegangen. Bist du jetzt beruhigt?“
Sie ging weder auf meine Geschichte, noch auf meine Frage ein.
„Du, ich glaube, wir müssen reden …“
Ich war fassungslos.
„Was soll das denn jetzt? Machst du jetzt mit mir Schluss, oder was? Wegen dem hier? Spinnst du?“
Sie ließ es abperlen.
„Können wir noch mal reden, wenn du zu Hause bist und dich beruhigt hast?“
Da wurde ich erst richtig wütend. Wenn sie Schluss machen wollte, sollte sie es mir direkt sagen. Aber es nützte nichts. Sie beharrte darauf, es später zu besprechen, aber da hatte ich keinen Bock drauf. Ich sagte ihr, dass sie mich mal könnte, und legte auf. Mein Herz raste genauso schnell wie eben, als mir die Phalanx gegenüberstand. Über dem Platz war die Luft nun wieder klar. Die weißen Feldlinien waren kaum noch zu erkennen. Ich blickte zum Vereinsheim. Schlotz trat aus der Heimkabine. Allein.
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