Vor einiger Zeit ist mir aufgefallen, dass das allermeiste, was wir denken und sagen, nicht überprüfbare Behauptungen sind. Das zieht dem meisten, was auf der Welt gedacht und gesprochen wird, den Boden der Verbindlichkeit weg. Ganze „Wissenschaften“ zerfallen zu einem Geflecht aus Vagheiten und Möglichkeiten.
Dass man streng genommen allem skeptisch gegenüberstehen muss, ist kein neuer Gedanke für mich. Aber die Herleitung ist neu. Bisher war es für mich ein erkenntnistheoretisches Problem à la Kant und Descartes: Wir stecken in unserem eigenen Geist und können uns allem außerhalb von diesem nie sicher sein. Diese Herleitung ist immer noch die mächtigste. Aber sie ist auch weltfremd, weil sie uns vom Handeln und von der Gesellschaft abschneiden würde, wenn wir ihr wirklich Raum gäben.
Der neue Ansatz ist viel lebensnäher und dadurch auf seine Art mächtiger. Es geht um das „Tertium“, das oft in der Praxis gar nicht gegeben ist. Der Sprecher äußert Worte, die jemand aufnimmt – aber es gibt eigentlich kein Drittes, auf das sie verweisen.
Wenn ich den Satz sage Der Himmel ist heute wolkenlos, dann ist das Tertium greifbar: der wolkenlose Himmel am heutigen Tag. Um den Satz zu überprüfen, muss ich in diesem Fall nur aus dem Fenster schauen. Wenn ich hingegen den Satz sage Die sozialen Medien verändern unser Kommunikationsverhalten in einer nie dagewesenen Weise, dann ist es praktisch unmöglich, diesen Satz zu überprüfen. Bestenfalls kann ich noch ermitteln, was die sozialen Medien überhaupt genau sind. Doch was mit den Ausdrücken Kommunikationsverhalten und nie dagewesene Weise überhaupt genau gemeint sein soll – keine Ahnung.
Zunächst ist man geneigt, das alles nicht besonders tragisch zu finden. Dieser Beispielsatz stellt schließlich so etwas wie eine wissenschaftliche These dar. Und dass es kompliziert bis unmöglich ist, solche Thesen zweifelsfrei zu beweisen, das ist nichts Neues. Doch dabei übersieht man zwei Dinge:
- Viele Menschen würden diesen Satz sofort unterschreiben oder zumindest glauben.
- Sätze dieser Art fallen nicht nur in wissenschaftlichen Kontexten, sondern andauernd.
Beispielsweise besteht quasi das gesamte Feuilleton einer Zeitung aus solchen Sätzen, die man nicht überprüfen kann. Sybille Berg ist eine provokante Autorin, der es immer wieder gelingt, die brennenden Themen der Zeit pointiert auf den Punkt zu bringen. Über einen solchen Satz stolpern wir in der Regel nicht im grundsätzlichen Sinne. Allerhöchstens reagieren wir mit Widerspruch: In meinen Augen ist Sybille Berg nicht besonders provokant; mich provoziert sie jedenfalls zu nichts. Aber der Autor des Artikels mag das anders sehen. So eine Reaktion ist inhaltlich ablehnend, erkennt aber dennoch an, dass man den Satz verstehen und auf Richtigkeit hin überprüfen kann. Wie sonst sollte man auf ihn reagieren können?
Meine These ist nun aber, dass man einen solchen Satz wie den über Sybille Berg eben nicht wirklich aufnehmen und verarbeiten kann, weil er von Dingen redet, deren Überprüfung sich einem entziehen. Ich weiß zwar, was das Wort provokant bedeutet, aber ich weiß wahrscheinlich nicht, ob sich tatsächlich jemand von Sybille Bergs Texten provoziert fühlt. Schon gar nicht, ob dies in einer Häufigkeit passiert, die so ein allgemeines Urteil rechtfertigt. Prinzipiell kann der Autor des Artikels dies noch abfangen, indem er faktische Beispiele für entsprechende Reaktionen mitliefert. Manchmal passiert so etwas, häufig aber nicht. Viel ändern tut es aber gar nicht, denn spätestens bei den Ausdrücken die brennenden Themen der Zeit und auf den Punkt bringen ist völlig unklar, von was genau hier die Rede ist. Was ist die Zeit? Was sind ihre Themen? Wer legt diese fest? Wann und wieso brennen sie? Und welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit sie auf den Punkt gebracht sind? Wir wissen es nicht.
Und doch sind es genau solche Sätze und Urteile, die wir mit größter Genugtuung aufsaugen, um sie zu unterschreiben oder ihnen zu widersprechen – und auch wir selbst geben andauernd solche eigentlich aus der Luft gegriffenen Urteile ab. Dieser Text hier ist das beste Beispiel: Er stellt auch nichts als Behauptungen auf, die sich überhaupt nicht durch greifbare Dinge überprüfen lassen. Als Leser kann man lediglich auf Basis der Worte irgendein Gedankenkonstrukt aus eigenen Erfahrungen, Kenntnissen und Vorstellungskräften errichten und damit dann irgendwie umgehen.
Wenn man ein wenig über all das nachdenkt, so scheint so zu sein, als würden sich die beschriebenen Unsicherheiten immer dann einschleichen, wenn wir den Bereich des Physischen, also des empirisch Beobachtbaren, verlassen. Je geistiger die Sphäre wird, desto weniger lässt sich überprüfen und beweisen, was wir denken und sagen. Ironischerweise aber sind wir ja vor allem im Geistigen Mensch. Es scheint also so zu sein, dass wir gerade in der Ahnungslosigkeit am meisten Mensch sind, nicht in der Erkenntnis. Das zeigt sich auch daran, dass gerade der Bereich der Ethik und Moral völlig vage und ohne sicheren Boden ist. Kritische Ketten, die Suche nach realen Fixpunkten, das läuft hier postwendend ins Leere. Die Würde des Menschen ist unantastbar! – Was ist Würde? Wann wird sie angetastet? Und wo steht das überhaupt von Gott in Stein gemeißelt? – Es gibt hier schlichtweg kein greifbares und sichtbares Tertium, auf das man zurückgreifen könnte.
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