Schwarzer Sumpf

Short Stories

Fortuna

„Lass mich mal!“, Lucas schob Said zur Seite. Er packte den Griff mit beiden Händen und ruckelte an dem roten Metallkasten.
„Geht nicht! Der ist neu.“
„Doch, ich hab’s gleich.“
Er ruckelte heftiger und der Kasten knallte gegen das Geländer, an das er gekettet war.
„Hör auf, Lan! Die Leute gucken schon“, sagte Said. Lucas liess den Griff los und trat gegen den Kasten. „Geht echt nicht, ja!“
„Hat einer zwei Pfennig?“, fragte ich.
„Warum?“
„Gib einfach!“
Lucas kramte in seinem Portemonnaie und gab mir ein Zweipfennigstück. Ich steckte es in den Schlitz und schob noch eine Münze hinterher. Dann öffnete ich die Klappe und nahm mir eine Zeitung heraus. Lucas und Said sahen mich erstaunt an.
„Statt fünfzig Pfennig kannst du auch zwei nehmen“, sagte ich. „Brauchst also nur vier Pfennig.“
Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Lucas nahm sich eine Zeitung. „Hä? Aber es kostet doch siebzig Pfennig. Dann brauchst du doch zweiundzwanzig.“
Ich tippte mir an die Stirn. „Bist du doof? Warum soll man zweiundzwanzig reinschmeissen, wenn man es für vier haben kann? Der Automat denkt doch nur, dass das zu viel ist.“
„Stimmt, ja! Du hast recht.“ Lucas lachte. „Am besten wäre, wenn es noch Rückgeld gäbe. Dann so immer wieder vier Pfennig reinstecken und immer dreissig zurückkriegen, bis man Millionär ist.“
„Als ob da so viel Wechselgeld reinpassen würde.“
„Ist doch nur eine Idee, du Spasti!“
Said nahm den Packen mit den übrigen Zeitungen heraus. Er ging er zu einem älteren Herrn, der ein paar Schritte von uns weg stand.
„Wollen Sie auch eine?“
Die Miene des Mannes hellte sich auf. Er nahm das gefaltete Papier entgegen und bedankte sich nickend. Auch einer Frau bot Said eine an, aber sie schüttelte den Kopf. Er stopfte den Packen in den Mülleimer neben dem Haltestellenschild und kam zu uns zurück.
„Nimmt der einfach eine!“, sagte Lucas lachend.
Das Girl des Tages hiess Sandy, trug nichts als Wollsocken und freute sich auf die Adventszeit. Ihre Brüste waren prall wie Handbälle.
„Pamela Anderson zwei“, sagte Said.
„Oder Dolly Buster“, erwiderte ich.
Lucas tippte auf das Papier. „Schneider wieder fit.“
Ich blätterte zum Sportteil und sah mir die Aufstellung an. „Younga spielt auch.“
„Ich weiss, bombig!“

Wir standen vor dem Dönerladen.
Said kramte in seiner Hosentasche. „Kann mir jemand was leihen?“
Ich gab ihm zwei Mark. Mehr hatte ich auch nicht übrig.

„Wie lange noch?“, fragte ich, nachdem wir aufgegessen hatten.
Lucas sah auf seine Armbanduhr. „Noch über sechs Stunden.“
„Laber nicht!“
Er zeigte mir das Ziffernblatt. Ich seufzte. „Was machen wir so lange?“
„Weiss nicht.“
„Sechs Stunden sind lang!“
„Sechs Stunden sind richtig lang, ja.“
„Bei Radio Weiss kann man Tekken spielen.“

Die Tür öffnete sich mit einem Schellen. Ich steuerte auf die Playstation zu, die in ein einfaches weisses Holzregal eingelassen war. An ein Brett waren zwei schwenkbare Metallarme geschraubt worden, an denen wiederum die beiden Controller montiert waren. Im Fach über der Konsole befand sich ein stattlicher Röhrenfernseher. Er war ausgeschaltet. Ein dicker Mann mit löchrigem Bart kam um die Ecke getrottet und musterte uns.
„Dürfen wir spielen?“, fragte ich.
„Kostet fünf Mark für eine Viertelstunde.“
„Hä? Seit wann das denn?“
„Weiss nicht, bin neu hier.“
„Bis jetzt durften wir immer umsonst spielen.“
„Keine Ahnung. Jetzt kostet es.“
„Aber wir haben nicht genug Geld.“
„Ist nicht mein Problem.“
„Dürfen wir nicht noch einmal? Bitte, nur noch heute! Wir müssen sechs Stunden rumkriegen.“
„Tut mir leid.“
Er liess uns stehen und verschwand wieder im Nebenraum.
„Wichser!“, sagte Lucas. Er zog ein Klappmesser aus der Tasche und setzte die Klinge an das Kabel von einem der Controller.
„Soll ich?“ Er ritzte in die Gummiisolierung. „Ich mach‘s!“
Said fasste sein Handgelenk und schüttelte den Kopf. Lucas klappte das Messer zu und steckte es weg. „Ich war kurz davor, ja!“

Wir tigerten durch die Regalreihen mit den leeren Hüllen der Videokassetten.
„Rambo drei!“, sagte ich und tippte auf den Rücken einer Hülle.
Lucas drehte sich um. „Was ist das?“
Ich antwortete mit tonloser Stimme. „Blaues Licht.“
„Was macht es?“
„Es leuchtet blau.“
Wir lachten und gingen weiter.
„Ahbo!“, sagte Lucas beim nächsten Regal. „Show Girls!“
Er drehte die Hülle um. Eines der Fotos mit den Filmausschnitten zeigte die Hauptdarstellerin vollkommen nackt. Ich sah das Foto nur verkehrt herum und griff nach der Hülle, aber Lucas zog sie weg.
„Hab ich gesehen“, sagte er.
„Was der labert.“ Said hatte sich zu uns gestellt und sah ebenfalls auf die Hülle.
„Doch, wirklich. Mein Bruder hat den mal gehabt.“
„Du laberst!“, sagte Said und lachte.
„Ja, der labert“, sagte ich.
„Wenn ihr meint.“
„Komm, wir hauen ab“, sagte Said.
Lucas schob die Hülle zurück in die Lücke. Er ging mit Said zum Ausgang, aber ich blieb stehen und zog sie noch einmal heraus. Sie war wirklich komplett nackt.
„Komm schon, Mann!“
Ich atmete aus und stellte die Hülle zurück an ihren Platz. Es fühlte sich an, als hätte ich am Wegesrand ein magisches Amulett gefunden, nur um es direkt wieder zu verlieren.
„Du hast dir noch mal die Tussi angeguckt, richtig?“ Lucas grinste.
„Nee, hab was anderes gesehen.“
Er riss die Tür auf und schrie. „Hier kaufen wir nie wieder!“

„Wie lange noch?“, fragte ich.
„Fünf Stunden fünfundvierzig Minuten.“
„Oh, Mann!“
Lucas vergrub seine Hände in den Taschen. „Kalt, ja!“
„Isso!“, sagte Said
„Die gemässigte Zone ist gekennzeichnet durch ausgeprägte thermische Jahreszeiten“, sagte ich.
Die beiden lachten.
„Lass mal Richtung Chlodwigplatz gehen.“
„Ja.“

Wir schlenderten die Severinsstrasse runter. Bei Woolworth machten wir Halt und sahen uns den Krimskrams an.
„Kann ich euch helfen?“, fragte ein Verkäufer.
„Wir schauen uns nur um.“
„Aha!“
Er verzog sich hinter die Kasse und behielt uns im Auge. Ich setzte mir ein Abtropfsieb auf den Kopf und hielt mir einen Spritzschutz vors Gesicht. Lucas schlug mir mit einem Kochlöffel auf den Kopf.
„Nur Scheisse hier“, sagte ich.
Er legte den Löffel weg. „Ich hab Durst. Komm, wir gehen zu Plus. Die haben Pepsi für zwanzig Pfennig. Halbliterdosen.“
„Aber ungekühlt.“
„Na, und? Nur zwanzig Pfennig! Bei Kaiser‘s kosten die das Doppelte.“
„Kaiser’s ist eh scheisse. Am besten ist Real. Da gibt‘s sogar Motoröl.“
„Übertreib! Warum nicht gleich Handelshof?“

Die schwarz-weiss gesprenkelten Fliesen im Plus klebten. Bei jedem Schritt machten unsere Basketballschuhe ein schmatzendes Geräusch. Lucas griff sich eine Schachtel mit belgischen Pralinen, die wie Meeresfrüchte geformt waren.
„Die sind so geil. Hat meine Oma immer zu Hause.“
„Wie viel?“
„Zweiachtundneunzig.“
Wir zählten unser Geld und legten zusammen.

Schmatzend gingen wir weiter. Die Cola war schaumig und so süss, dass die Pralinen fast herb schmeckten.
„Echt gut“, sagte ich. „Die Muscheln sind am leckersten.“
„Die sind doch alle gleich, du Idiot“, sagte Lucas.
„Ja, aber die Form ist anders. Wie bei Nudeln. Spaghetti sind auch leckerer als Tagliatelle. Die hasse ich. Oder Penne. Die schmecken besser als Rigatoni.“
„Bist du Italiener, oder was? Warum kennst du so viele Nudelsorten?“
„Hä? Sind doch normale Sorten. Kennt ihr die nicht?“
Ich wandte mich an Said.
„Du kennst die doch auch, oder?“
Er machte den Schnalzlaut, den er immer machte, wenn er so viel sagen wollte wie: „Hau mal ab!“ Dabei schüttelte er kaum merklich den Kopf. „Tzzz!“
„Ist der so eigentlich ein Italiener“, sagte Lucas und lachte. „Alessandro del Pierro.“
Er sprach es mit einem breiten Akzent aus und machte eine Geste dazu.
Ich stimmte ein. „Roberto Baggio!“
„Ravanelli!“
„Die weisse Feder!“
„Das ist echt der beste Spitzname. Eins zu Null, die weisse Feder hat wieder zugeschlagen! Wie in Zorro oder so.“
„Ohne den und Vialli ist Juventus scheisse.”
„Was redest du?“, mischte Said sich ein. „Die haben doch gerade erst von Bordeaux Zidane geholt.“
„Egal“, sagte ich. „So zwei Stürmer kann man nicht einfach ersetzen.“
„Die werden noch einmal die Champions League gewinnen, glaubt mir“, sagte Said. „Werdet ihr schon sehen.“
Lucas machte einen Satz vor uns und wandte sich um. Er ging rückwärts. „Hey, kennt ihr den? Treffen sich eine blinde Maus und ein blindes Krokodil. Sagt die Maus: ‚Rat mal, was ich bin!‘ Das Krokodil tastet sie ab und sagt: ‚Du bist klein, flauschig und hast eine spitze Nase, du bist bestimmt eine Maus.‘ – ‚Richtig‘, sagt die Maus. ‚Und jetzt rate ich.‘ Sie tastet das Krokodil ab und sagt: ‚Du hast kurze Beine, eine grosse Schnauze und einen dicken Schwanz, du bist bestimmt Italiener!‘“
Wir lachten. „Wo hast du den denn her?“
„Hat mir mein Bruder erzählt.“

Wir blieben vor einem kleinen Café stehen.
„Ob Robbi da ist?“
Seine Mutter stand hinter der Theke und machte zwei Teller mit Torte für die einzigen beiden Gäste fertig, ein altes Ehepaar, das in der hintersten Ecke sass und sich anschwieg.
„Ach, hallo“, sagte sie und lächelte. Dann legte sie die Stirn in Falten. „Robbi ist leider nicht da. Der hat Nachhilfe. Er kommt erst gegen Vier zurück.“
„Ach, so.“
„Wenn ihr wollt, könnt ihr hier auf ihn warten.“
Wir sahen uns an.
„Nö, danke“, sagte ich. „Wir haben nicht so viel Zeit. Wir gehen gleich ins Theater.“
Lucas unterdrückte ein Grinsen.
„Oh, das ist aber schön. Das würde dem Robbi auch mal guttun.“
„Beim nächsten Mal nehmen wir ihn mit.“
Jetzt musste Lucas grinsen. Ich trat ihm gegen die Wade. Robbis Mutter gab uns noch drei Muffins vom Vortag mit, dann gingen wir weiter.

„Bäh, trocken!“, sagte Lucas und spuckte einen braunen Schwall an eine Hauswand. Er holte aus und warf den Muffin nach einem Schild in einer Seitenstrasse.
„Echt voll trocken!“, sagte ich.
Said und ich und sahen uns an. Er erwischte das Schild und der Muffins zerplatzte.
„Voll die Geizige! Gibt die uns alte Muffins“, sagte ich.
„Wie einem Hund!“, sagte Said und wir lachten.
„Hat aber geile Titten“, sagte Lucas.
„Du bist so ein Perversling.“
„Ich steh halt auf grosse Titten. Meine Freundin hat auch grosse.“
„Freundin, als ob. Wieso haben wir die noch nie gesehen?“
„Wohnt in Polen.“
„Ja, klar!“
„Brauchst du nicht glauben. Is mir egal. Im Sommer fahr ich wieder zu der. Dann treiben wir’s. Hab die schon gefingert. Die hat voll den Busch da unten. Muss der mal sagen, dass die sich rasieren soll.“
Lucas sah uns abwechselnd an. „Findet ihr das nicht eklig, wenn die alles voller Haare haben?“
Said und ich erwiderten nichts. Lucas fixierte mich. „Oder habt ihr noch nie ne Muschi angefasst?“
Ich blickte weg, dann wieder zu ihm. Er grinste breit. „Ihr habt noch nie ne Muschi angefasst!“
Er begann von einem Bein aufs andere zu hüpfen und abwechselnd auf uns zu zeigen. „Ihr. Habt. Noch. Nie. Ne. Muschi angefasst!“
Die Matte auf seinem Kopf wippte. Er liess sich gerade die Haare langwachsen und sah aus wie ein Beatle.
„Sei mal leise!“, sagte Said und es war egal, ob er log oder nicht.
„Und du?“ Lucas fixierte mich.
Ich fühlte, wie mir Hitze in die Wangen stieg. „Ich auch.“
„Glaub ich dir irgendwie nicht.“
„Is aber so.“
Mein Herz begann heftig zu pochen und ich betete, dass er das Thema fallen lassen würde. Tat er aber nicht. „Ich wette, du hast noch nicht mal Schamhaare!“
Mein Kopf glühte. „Fick dich!“ Ich stiess diese zwei Worte hervor.
„Ach ja? Dann zeig doch mal!“
„Bist du schwul, oder was?“
Lucas runzelte die Stirn. „Was?“
Ich wandte mich an Said. „Ich glaub, der ist schwul. Will der meine Schamhaare sehen!“
Said grinste.
Lucas schüttelte den Kopf. „Halt’s Maul, du Fickfehler!“
Er versuchte mir mit beiden Händen gegen die Brust zu stossen, aber ich lenkte den Stoss ab. „Verpiss dich!“
Sein Gesicht war rot angelaufen. „Wichser!“
„Ruhig, Jungs“, sagte Said. „Kommt mal wieder runter.“
Lucas und ich starrten uns an, dann marschierten wir weiter, den Blick stur geradeaus gerichtet. Fünf Minuten später standen wir vor dem Sportladen bei der Severinskirche.
„Schwuchtel!“, sagte ich. Er grinste. „Selber Schwuchtel!“

„Shaquille!“
Said hielt ein schwarzes Trikot mit feinen weissen Längsstreifen in die Höhe.
Ich ging zu ihm. „Gibt‘s Barkley?“
„Glaub nicht.“
Er hängte das Trikot zurück an die Stange und ging die Reihe weiter durch. „Olajuwon.“
„Nee, den hasse ich.“
„Fang!“
Ich drehte mich um. Ein Football trudelte auf mich zu. Ich riss den Kopf zur Seite und der Ball landete mit einem dumpfen Geräusch in den Klamotten hinter mir. Lucas lachte.
„Du Bastard!“, rief ich.
„Pass zurück!“
Ich hob das Ei auf und schleuderte es in Lucas’ Richtung.
„Hey! Den Ball weg, aber ganz schnell!“ Die Stimme des Verkäufers klang, als meinte er es ernst.
Lucas legte das Ei zurück in den Metallkorb. „T’schuldigung!“
„Haben Sie Fortunaschals?“, fragte ich.
Er nickte zu einer Ecke, wo alles voller FC-Artikel hing. „Linkes Regal, unterstes Fach.“
Ich zog einen Schal hervor und sah ihn mir an. „Gibt’s auch noch andere? “
„Nein, nur den.“
„Wie viel?“, fragte Lucas.
„Fünfundzwanzig“, sagte ich.
„Beim Stadion dreissig.“
„Aber der ist hässlich.“
„Hast eh kein Geld.“
„Ja, aber vielleicht wünsch ich mir einen zu Weihnachten.“

Wir erreichten den Chlodwigplatz und gingen durch den Torbogen. Es roch nach feuchter Pisse. Ein Mann mit Stoppelbart und Seitenscheitel kam uns entgegen gewankt. Er trug einen fleckigen Trenchcoat und eine getönte Brille. In der Hand hielt er eine Flasche mit einem Rest Wein, der bei jedem Schritt schwappte. An seinem linken Ärmel prangte eine Blindenbinde. Der Mann sah uns böse an, so als würde er uns gleich die Flasche überbraten. Wir wichen ihm erst im letzten Moment aus, zwei auf der einen, einer auf der anderen Seite. Er murmelte einen unverständlichen Fluch.
„Den kenn ich“, sagte ich ein paar Schritte später. „Der ist manchmal in meinem Bus. Steigt immer beim Annoheim ein. Glaube, er fährt zur Domplatte. Der stinkt so ekelhaft!“
Wir überquerten den Bussteig und gingen auf eine Reihe Taxis zu.
„Hey, vielleicht ist dein Vater hier“, sagte Lucas.
Said reagierte nicht und ging einfach weiter. Ich schlug an Lucas’ Jacke, ohne dass Said es sah.
„Was denn?“, zischte Lucas.
Ich schüttelte den Kopf und er begriff. Er zeigte auf die Ladenzeile hinter den Autos. „Die machen Schweinefleisch ins Döner.“
„Woher weisst du das?“, fragte ich.
„Hat meine Mutter erzählt.“
„Vielleicht labert sie.“
„Halt die Fresse!“
Said wachte wieder auf. „Aboh, der hat deine Mutter beleidigt!“
„Hab ich nicht. Hab nur gesagt, vielleicht labert sie.“
Lucas schlug mir mit der Faust hart auf die Schulter. „Das hast du verdient!“
„Hab ich gar nicht gespürt. Du hast nur die Jacke getroffen.“
„Ja, ja.“
Ich sah Said an. Er sollte aufpassen.
„Ey, Lucas, dein Vater hat deine Mutter gefickt!“
Es arbeitete einen kurzen Moment lang in ihm, dann lachte er. „Und dein Opa hat deine Oma gefickt!“
Er blieb stehen. „Sollen wir die Bahn nehmen?“
„Nee, besser laufen. Wie lange noch? – Warte, ich rate!“
Ich guckte in die Luft, dann fasste ich mir an die geschlossenen Augen. „Vier Stunden und dreiundzwanzig Minuten.“
Lucas zog den Ärmel seiner Jacke zurück und schaute auf die Uhr. „Laber doch nicht!“
Er zeigte uns die Uhr. „Du verarscht uns.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Nö.“
Er sah hilfesuchend zu Said. Der nickte zur Seite und Lucas entdeckte die Uhr auf der Verkehrsinsel.
„Lucas dolum adhibet“, sagte Said. Wir lachten und gingen weiter.
An der Ecke der Merowinger Strasse wehte uns der Geruch von Brathähnchen in die Nase.
„Gleich kommt ein Puff“, sagte Lucas.

„Man sieht ja gar nichts.“
Wir standen vor einer weinroten Fassade und starrten auf eine goldene Tür.
„Was soll man denn sehen?“, fragte Lucas.
„Na, Nutten“, erwiderte ich.
„Geh mal rein, die sind drinnen.“
„Ist bestimmt noch zu.“
„Ja, ja. Traust dich nicht!“
„Als ob.“
Das Schloss klackte und ich zog die Tür einen Spalt weit auf. Halogenlicht fiel mir in die Augen. Am liebsten hätte ich wieder losgelassen, aber ich spürte die Blicke von Lucas und Said in meinem Nacken. Ich hielt den Atem an und zog sie weiter auf.
„Juten Tach, der Herr, kommense rein!“
Ein fülliger Mann mit grauen Koteletten stand hinter einem Tresen und polierte ein Glas. Sein Bauch spannte ein kariertes Hemd. Er begann zu lachen und eine silberne Kette an seiner Lederweste sprang klimpernd hin und her. Ich machte einen Schritt in den Raum. Auf den Tischen standen umgedrehte Stühle, in der Raummitte ein Eimer mit einem Mopp. Der Mann stellte das frisch polierte Glas hinter sich ab und sah die Frau auf dem Barhocker vor ihm an. Sie trug Jeans und einen flauschigen Pullover. „Et jet immer fröher loss.“
Ich wusste nicht, ob er mein Alter oder die Tageszeit meinte. Die Frau lächelte und ihr faltiges Gesicht blühte auf. Ich fragte mich, ob sie die Putzfrau oder eine von den Nutten war. Der Mann lehnte sich auf den Tresen. „So! Wat künne mer für disch dun?“
Ich entdeckte an der Wand eine Kuckucksuhr. Er folgte meinem Blick und setzte an, etwas zu sagen, doch ich kam ihm zuvor. „Wollte nur mal reingucken.“
Er reckte das Kinn vor und zog die Augenbrauen hoch. „Ach so.“
Die Frau kniepte dem Mann zu. „Komm doch in ein paar Jährchen noch mal wieder.“
Sie war wohl eine Nutte.
„Mach ich“, sagte ich und drehte mich um. Als ich über den Absatz vor der Tür ging, spreizte ich die Arme ab und drückte die Brust raus.
„Und?“, fragte Lucas.
„Bestimmt zwanzig Nutten da drin.“
„Nee!“
„Doch. Und alle in Unterwäsche.“
„Laber nicht!“
„Geh doch gucken.“
Er zögerte. Dann machte er einen Satz auf den Absatz und drückte mich aus dem Weg. Er zog die Tür auf und verschwand in dem Laden. Nach fünf Sekunden war er wieder draussen.
„Du Wichser!“

Wir gingen über die Allee.
„Braucht jemand einen Kassettenrecorder?“ Ich trat gegen das Gerät, das jemand am Rand des Schotterweges deponiert hatte, darauf ein labberiger Zettel: „Zum Mitnehmen!“
„Es schneit“, sagte Said.
Tatsächlich. Satte Schneeflocken fielen vom Himmel.
„Bleibt eh nicht liegen“, sagte Lucas.
„Doch, guck!“ Ich zeigte auf die Reihe geparkter Autos. Die Motorhauben waren schon mit einem Firnis überzogen.
„Boah, ich hoffe, es bleibt liegen“, sagte Lucas. „Dann spielen sie mit einem orangenen Ball.“

Auf der Vorgebirgstrasse war aus den Flocken ein Gestöber geworden. Die Autos fuhren jetzt nur noch Schritttempo, die Lichter eingeschaltet, obwohl es noch Tag war. Ich liess mich zurückfallen und kratzte den Schnee vom Poller eines Vorgartenzauns. Der Ball traf Lucas im Nacken. Ich sah den Schnee in seinen Kragen rieseln. Er drehte sich um.
„Du Hurensohn! Du bist tot!“
Er ging in die Knie und schaufelte Schnee vom Boden in seine offene Handfläche. Ich ging zwischen zwei Autos in Deckung, um mich ebenfalls neu zu bewaffnen.

Als wir den nächsten Block erreichten, waren wir völlig ausser Atem. Lucas kam mit rotem Kopf und dampfendem Haar auf mich zu. Er wischte sich die nassen Haare aus der Stirn und keuchte. „Ok, das reicht!“
„Wie lange noch?“
Er sah auf die Uhr. „Noch dreieinhalb Stunden.“
Ich seufzte.
Said legte mir den Arm auf die Schulter. „Die Zeit vergeht einfach nicht.“
„Isso“, sagte Lucas.
Ich zeigte auf den Volksgarten. „Lass mal da rüber gehen.“

Die grosse Wiese gegenüber vom Teich, der mit dem Himmel nahtlos verschmolzen zu sein schien, war ein unberührtes weisses Feld. Ich überlegte. Hatte ich überhaupt jemals einen richtigen Schneemann gebaut? Ich konnte mich nur an Versuche erinnern. Es hatte nie genug Schnee gelegen, sodass wir immer nur Schneemännchen zustande gebracht hatten. Am Ende standen sie unproportional und hässlich auf grünem Rasen mit weissen Sprenkeln. Aber jetzt musste doch wirklich einmal genug Schnee da sein! Und es schneite weiter. „Kommt, wir bauen einen Schneemann!“
Kaum hatte ich diesen Satz gesagt, bereute ich ihn. Aber auch Said und Lucas konnten den Blick nicht von dem Feld abwenden.

Wir traten unsere Kugeln vor uns her, ab der Mitte mussten wir sie mit den Händen anschubsen. Als wir auf der anderen Seite ankamen, gingen sie uns bis kurz unter die Knie. Enttäuscht sahen wir sie an.
„Wisst ihr, was noch besser wäre als ein Schneemann?“, sagte ich. „Eine einzige Riesenkugel machen.“
Said und Lucas nickten. Wir wählten die rundeste Kugel aus und schoben sie zurück über das Feld. Als wir wieder auf der Ursprungsseite waren, hielten wir inne. Die Kugel ging uns jetzt fast bis zur Hüfte. Ich betrachtete die Risse in der glatten, weisse Fläche.
„Wartet mal!“, sagte ich. „Wir sollten besser systematisch vorgehen.“
Die beiden stützten die Hände in die Hüften und sahen mich an.
„Wenn wir eine Schnecke machen, nehmen wir wirklich den ganzen Schnee mit.“
„Du hast recht, ja!“, sagte Lucas. Er grinste. „Das wird übertrieben. Wie viel Schnee das ist!“

Nach der ersten Runde ging uns die Kugel bis zum Bauch, nach der zweiten bis zur Brust. Es wurde immer schwerer, sie anzuschubsen. Unsere Hände waren mittlerweile feuerrot und brannten vor Kälte, unsere Schuhe und Socken waren durchgeweicht bis auf die Haut, unsere nassen Hosen klebten uns an den Waden. Aber das war uns alles egal, Hauptsache, die Kugel wurde noch grösser. Wir mussten uns irgendwann gemeinsam gegen sie lehnen, weil sie so schwer geworden war. Es begann zu dämmern und die Laternen gingen an. Als wir endlich die Mitte der Wiese erreichten, hatte es aufgehört zu schneien und es war dunkel geworden. Die Kugel war jetzt grösser als wir. Wir waren ganz alleine in dem Park.

Auf dem Gehweg wandte ich mich noch einmal zu der Kugel um. Niemand sah unser Werk.
„Is echt kalt“, sagte Lucas. Said sah auf seine Hände. „Isso!“
„Können wir irgendwo hin, wo es warm ist?“, fragte ich.
Lucas überlegte. „Die Strasse runter sind die Zollstock-Arkaden.“

Wir liefen nebeneinander über den festgetretenen Schnee auf dem Bürgersteig. Auf der Strasse hatte der nicht abreissende Strom von Autos den Asphalt längst zurückerobert. Nur am Rand, an den Bordsteinen klebten noch braune Batzen. Ich stiess einen Atemstoss aus und betrachtete den Dampf.
„Hier haben wir ein paar Wochen lang gewohnt, als wir nach Deutschland gekommen sind.“ Lucas zeigte auf einen Häuserblock hinter einem Zaun. Er sah aus wie eine Kaserne.
„Was ist das?“, fragte ich.
„Asylantenheim.“
„Warum wart ihr denn da?“
„Wir sind ja aus Polen geflüchtet. Da war ich aber erst Drei. Kann mich gar nicht erinnern.“
„Ach, echt?“
„Darum ist der mein Bruder“, sagte Said und streckte Lucas die Faust entgegen.
Wir gingen weiter, unter der Eisenbahnüberführung durch.
„Und da wohne ich jetzt“, sagte Lucas. Er zeigte auf ein paar helle Punkte in der Ferne.
„Seid ihr direkt vom Heim dahin gezogen?“
„Nein, zwischendurch haben wir in Porz gewohnt.“

In der Einkaufspassage gingen wir einmal durch den Deichmann und sahen uns die Sportschuhe an, danach setzten wir uns auf eine Bank und beobachteten die vorbeilaufenden Leute.

„Ich hab keine Lust mehr zu warten, ja.“ Lucas stand auf.
„Ich auch nicht“, sagte ich. „Wie lange noch?“
Er sah auf die Uhr. „Eine Stunde zehn.“
„Können wir nicht schon rein?“
„Aber dann frieren wir.“
„Und wenn wir zu dir gehen?“
„Nee, keinen Bock. Mein Bruder hat bestimmt Freunde da.“
„Wir könnten Schiffe versenken spielen. Dafür braucht man nur Stifte und Papier.“
„Aber wir sind zu dritt.“
Ich sah zu Said, der die Arme auf den Oberschenkeln abgelegt und die Hände gefaltet hatte und auf den Boden starrte.
„Stimmt.“
Lucas hob seinen Rucksack vom Boden auf. „Lasst uns zu Kaiser’s gehen, Chinanudeln kaufen für nachher.“

Mit den Händen in den Jackentaschen und angezogenen Schultern schritten wir auf das Flutlicht zu. Es war noch einmal kälter geworden und unsere Schuhe und Hosenbeine waren noch immer klamm.
„Wollt ihr lieber nach Hause gehen?“, fragte Luca.
„Tzzz!“, machte Said. Er trug nicht mal eine richtige Winterjacke und schien doch am wenigsten zu frieren.
Wir gingen weiter.
„Wir müssen erst wieder warm werden“, sagte ich und sprang ein paar Mal auf und ab. „Es ist nur so kalt, weil wir von drinnen kommen.“

Ein Typ in Fortuna-Jacke, der nur ein paar Jahre älter war als wir, kontrollierte unsere Tickets.
„Ich wette, der ist in deren Jugend“, sagte Lucas.
In den Reihen in unserem Block standen nur hier und da ein paar ältere Männer. Einige hatten rot-weisse Schals oder Mützen an, die meisten trugen wie wir überhaupt nichts vom Verein. Der einzige Bereich, wo es etwas lebhafter und bunter zuging, war die Heimkurve. Von der Gastmannschaft waren vielleicht dreissig Fans angereist. Das versprengte Grüppchen auf den Betonstufen sah erbärmlich aus.
„Bestimmt weil Montag ist“, sagte Lucas.
„Ich war noch nie im Stadion“, sagte ich.
„Echt nicht?“
„Ich auch nicht“, sagte Said.
„Ich war schon paar Mal hier und paar Mal im Müngersdorfer Stadion“, sagte Lucas.
Ich fasste um das Eisengeländer vor unserem Platz. Es war eiskalt und ich liess wieder los. „Wie lange noch?“
„Zwölf Minuten.“
„Ich glaube, ich esse meine Nudeln jetzt schon.“
„Ich auch.“

Ich kippte mir etwas Gewürzpulver in den Mund und kaute es zusammen mit einer halben Handvoll harter Kringel.
„Da ist Bernd Schuster“, sagte Lucas.
Ein Mann in einer riesigen Jacke stapfte auf die Reservebank zu.
„Der blonde Engel“, sagte Lucas.
„Ey, der hat ja original deine Frisur!“ Wir lachten.
„Wisst ihr noch, sein Tor von der Mittellinie? Gegen wen war das noch mal?“
„Frankfurt“, sagte Said.
„Hat der einfach mal für Madrid und Barcelona gespielt.“
„Und für Atlético auch.“
„Echt?“
„Ja.“
„Gangster.“

Kurz darauf liefen die Mannschaften auf. Die Spieler trugen Langarmtrikots, einige auch Handschuhe. Aus der Lautsprecheranlage erklang scheppernd die Stimme des Stadionsprechers. Er sagte die Nummern und den Vornamen der Spieler, dann rief die Kurve die Nachnamen, ohne dass diese Rufe in dem weiten, leeren Oval ein Echo fanden. Younga spielte doch nicht.

Die erste Halbzeit verlief praktisch ereignislos und wir mussten immer wieder auf unseren Plätzen auf und ab springen, um uns aufzuwärmen. Dann war Pause.
„Es ist so kalt“, sagte Lucas und rieb sich die Hände.
Ich sah den Männern um uns herum zu, wie sie die Stufen hochgingen, und folgte ihnen mit meinem Blick. Die meisten stellten sich an einer Bude an.
„Gibt es da was Warmes zu trinken?“, fragte ich.
„Glaube, nur Kaffee.“
„Sollen wir uns einen holen?“
„Weiss nicht. Habt ihr schon mal Kaffee getrunken?“
„Tzzz!“
„Ich auch nicht, nur paar Mal genippt.“
„Immerhin würde der uns aufwärmen.“
„Ja.“

Wir hielten die dampfenden Becher mit beiden Händen fest umschlossen und warteten darauf, dass der Schiri wieder anpfiff. Ein Mann mit Russenmütze ging in der Reihe vor uns durch, auch er hielt einen Kaffeebecher in der Hand. Er blieb stehen und sah zu uns hoch.
„Schweinekalt heute, was?“
„Ja“, sagten wir im Chor.
Er stellte den Becher ab und zog eine Zigarettenschachtel aus der Innentasche seines Mantels. Ich erkannte das Gelb von Camel. Er bemerkte meinen Blick und nachdem er sich eine Zigarette in den Mund gesteckt hatte, hielt er mir die Schachtel hin. „Auch eine?“
Ich schüttelte den Kopf. Er zündete die Zigarette an und nahm ein tiefen Zug. Ich roch den Rauch.
„Bis jetzt ist das ja nicht berauschend“, sagte er.
„Der soll mal Younga bringen.“
Der Mann zeigte mit dem Feuerzug auf Lucas. „Das nämlich.“
Er bückte sich nach dem Kaffeebecher. „Also dann, Jungs. Hoffen wir mal, dass das noch was gibt.“
Er ging weiter. Ich trank den ersten Schluck. Der Kaffee war bitter, aber nicht so übel, wie ich befürchtet hatte. Zwanzig Minuten vor Schluss kam Younga doch noch. Aber es war Brdarić, der in der dreiundachtzigsten Minute das Eins-zu-Null schoss. Die Kurve jubelte laut, wir schlugen ab. Es blieb dabei, bis der Schiri abpfiff. Wir sahen den Spielern zu, wie sie zur Kurve liefen, um sich feiern zu lassen. Der Mann mit Russenmütze ging erneut unter uns vorbei. „Hat es ja doch noch geklappt.“ Er zog die Camel-Schachtel heraus. „Seid ihr beim nächsten Spiel wieder hier?“
Wir wechselten einen kurzen Blick.
„Ja“, sagten wir im Chor.
Er hob den Zeigefinger und schlurfte zum Ausgang.
„Fortuna! – Fortuna!“, hallte es zu uns herüber.


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