Schwarzer Sumpf

Short Stories

Die Struktur von Kartoffelbrei

Es ist 11:30 Uhr an einem Dienstag. Seit einer Dreiviertelstunde grüble ich über einem Sudoku, aber ich komme einfach nicht auf die letzten paar Ziffern. Ich sitze weder in einem Zug, noch in einem Hörsaal, weder bei der Arbeit, noch in einer Hotellobby. Ich sitze in der ersten Reihe. Ab und zu stehe ich auf und betrete die Bühne. Eigentlich sogar ziemlich oft. Denn ich habe eine der Hauptrollen. Nicht, dass ich sie gewollt hatte. Es fehlte einfach nur Personal. Vor Kurzem noch habe ich die Bühne von oben betrachtet. Ich kauerte auf dem Balken, an dem der Vorhang befestigt war. Und mein Strick. Ich war unbemerkt dort hinaufgeklettert und anfangs war es mir schwindelig geworden. Dann nicht mehr so oft. Es war kalt dort oben, und staubig, aber ich unterdrückte das Husten, denn ich wollte die Vorstellung nicht stören. Natürlich hätte ich gerne den Schleim gelöst, alles ausgekotzt, aber es war ja schon egal. Bald würde der Vorhang fallen. Und ich mit ihm. Ende der Vorstellung. Aber der Vorhang fiel nicht. Und so begann ich, wieder mitzuspielen.

Ein Mann mit schwarz glänzenden Nudellöckchen linst um die Ecke und spricht fragend meinen Namen aus. Er muss die Vertretung sein.
„Ja, ich komme“, sage ich und lege das Heftchen auf die Fensterbank. Ich ärgere mich, dass ich das Sudoku jetzt unterbrechen muss, und folge dem Mann in eines der Sprechzimmer. Das Gespräch nimmt seinen gewohnten Lauf.
„Wie ist Ihr Schlaf?“
„Ganz gut mit den Tropfen.“
„Wie ist Ihr Stuhlgang?“
„Keine Ahnung, normal?“
„Suizidgedanken?“
„Ja, die habe ich mitunter noch“, sage ich und denke mir:
„Wieso auch nicht?“
Der Blick des Arztes, bis dahin eine Mischung aus Geschäftigkeit, Besorgnis und Aufmunterung, ist nun ganz Besorgnis. Er hakt nach, fragt mich, ob ich konkrete Pläne schmiede.
„Nein, mein Herr, ich gebe brav alle Rasierklingen ab und habe auch nicht vor, beim Ausflug am Freitag vom Dach des Museums zu springen.“
Auch das denke ich mir nur. Stattdessen antworte ich ihm lediglich:
„Nein.“
Seine Augenbrauen entspannen sich. Er sieht jetzt erleichtert aus, fast dankbar. Er ist noch jung und macht den Eindruck, als fühlte er tatsächlich mit. Jedenfalls lese ich das aus seinem ständigen Nicken heraus. Man könnte direkt meinen, er mag mich.

Als ich an meinen Platz zurückkomme, ist die vom Flur abgehende Essecke mit den in Hufeneisenform angeordneten Tischen bereits eingedeckt. Auf dem Tresen, der eine offene Küche abtrennt, stehen die versiegelten Metallschalen mit dem Essen bereit. In den letzten fünfzehn Minuten vor dem Mittagessen ist der ganze Bereich Sperrzone, sodass die beiden Menschen, die sich eines Morgens nach langem Hadern entschlossen haben, für eine Woche die Verantwortung fürs Tischdecken, Abräumen und Spülmaschineeinräumen zu übernehmen, ungestört der einzigen Tätigkeit nachgehen können, die zumindest blass den Anstrich einer Verpflichtung hat. Man lässt sie walten, denn für sie ist der Küchendienst eine große Sache, eine Bürde, der mit Ernst und gemessenen Gesten begegnet wird. Nur die zugedröhnte einbeinige Afrikanerin mit dem Barracuda-Biss und den wirren Haaren stört sich nicht an diesem Ritus und humpelt den beiden Diensttuenden zwischen den Füßen herum. Diese sind von der Arbeit bereits so erschöpft, dass sie es nicht schaffen, auch noch die Frau zu verscheuchen, und so wird sie zu einem vierten Mülleimer, um den sie sich mit ausdruckslosem Gesicht bei jedem Gang herumschlängeln. Sie wollen das Essen keine Minute zu früh auf den Tisch stellen, denn die Metallschalen sind zuvor in orangefarbenen Plastikcontainern mit einem Lieferwagen durch die halbe Stadt gereist, nur um dann im Hof, im Treppenhaus und vor der Küche herumzustehen. Entsprechend lau ist die Temperatur der Großküchenköstlichkeiten bereits. Für die Küchendienstler schafft dieser Timing-Prozess natürlich ein enormes Stressmoment, und die letzten Minuten vor Essensbeginn lauern sie förmlich darauf, endlich die Schalen zu öffnen und den Kartoffelbrei mit einem Kochlöffel zu entjungfern. Dieser Moment rückt nun näher und näher und die ersten Patienten landen im Flurabschnitt vor der Essecke. Doch obwohl jetzt alles schon bereitsteht, überquert keiner die Grenze von Teppich zu Linoleum. Wir alle wissen: Erst um Punkt zwölf darf man sich setzen, denn jeder Termin, jede konkrete Zeitangabe ist eine Rille in der „Struktur“, die hier jedem fehlt, die aber bestenfalls unseren ganzen Tag überziehen sollte.

Ich nutze die Zeit für einen kurzen Gang in den Aufenthaltsraum gegenüber. Auf den beiden Sofas sitzen gebeugt ein paar Leute, die Arme auf den Oberschenkeln, die Hände gefaltet. Nichts bewegt sich, nur die Füße wippen schnell. Manchen sieht man an, dass sie eben erst wieder aufgestanden sind. Sie haben ungekämmte Haare und starren ins Leere. Auch sie sitzt auf der Couch, das einzige Mädchen hier, das meinen Blick auf sich zieht. Aber sie beachtet mich nicht. Die Hände in den Taschen schlendere ich zum Fenster und schaue zwischen den Baumwipfeln hindurch auf die gegenüberliegende Häuserfront. Das Pärchen aus dem vierten Stock ist wohl nicht da. Manchmal sieht man es in Unterwäsche, wenn es das Bett verlässt, in dem es fernsieht oder sich vergnügt. Auch von einem der Sprechzimmer aus sieht man in ihre Wohnung und einmal lief die Frau ganz nackt herum, als die Ärztin tatsächlich gerade dabei war, mich über meine Libido auszufragen.
„Naja, hier ist ja nichts möglich“, kommentierte ich, während ich die Augen kaum von der Frau hinter ihr lassen konnte. Sie erwiderte:
„Außer, was man sich selbst macht.“
„Sie wissen schon, dass ich mit Herrn Colgani auf dem Zimmer bin?“, entgegnete ich daraufhin und sie lachte. Dass ich mir direkt beim ersten Ausgang ohne Begleitung am Kiosk einen Playboy gekauft und in meiner Jacke mit hineingenommen hatte, verschwieg ich ihr. Sie brauchte nicht zu wissen, was ich damit in dem kalten Badezimmer vor dem Spiegel machte, wenn Herr Colgani ein Nickerchen hielt.

Ich schaue nach unten zur Straße. Ein Bus passiert die Altglascontainer am Anfang der Allee und biegt an der Kneipe links ab. Es ist dieselbe Linie, mit der ich noch vor einigen Jahren zur Schule gefahren bin. Und rechts, das Kiosk, dort habe ich beim Zivildienst Frau Krolle immer ihre Wochenration Zigaretten geholt.
„Vergiss den Lottoschein nicht!“, das schärfte sie mir jedes Mal ein, bevor ich losging. Warum sie mit ihrem Lungenkrebs noch Lotto spielte, verstand ich damals nicht. Heute schon. Der Bus verschwindet zwischen den Häusern, aber ich sehe ihn trotzdem weiterfahren. Gleich kommt er am Obdachlosenheim vorbei, wo sie alle rumstehen, rumhumpeln, rumschreien, mit Weinflaschen und Bierdosen in der Hand, in abstruseste Altkleiderkombinationen gewandet. Ich stelle mir vor, wie einer zusteigt und den ganzen Bus verpestet mit seinem Auflösungsgeruch. Vielleicht ist es der Aufgedunsene im Trenchcoat mit der Sonnenbrille und der Blindenbinde, der immer bis zum Bahnhof fährt, die Krücke an den Sitz gelehnt. Als Kind hatte ich ein bisschen Angst, wenn ich mit dem Fahrrad durch diese Straße fuhr, aber nach kurzer Zeit wusste ich, dass mir dort nichts passieren wird. Diese Menschen sind nicht böswillig, sie werden nur empfindlich, wenn man ihnen das Wenige, was sie noch haben, streitig machen will. Und was soll ein Kind ihnen schon streitig machen?

Mein Blick schweift wieder nach oben, und zwischen den Dächern kann ich einen der Brückenbögen erkennen, und Häuser, die auf der anderen Seite des Flusses stehen. Ich weiß genau, wo ich mich geografisch befinde, kann zu jeder Ecke im Umkreis von fünf Kilometern etwas sagen, mich umgibt die Kulisse meines ganzen Lebens, mich umgeben Erinnerungen, mich umgeben meine Kindheit und meine Jugend, ich selbst umgebe mich. Und trotzdem kann ich nicht sagen, wo ich gerade bin. Nur eines weiß ich: Ich bin weiter weg von zu Hause als Anne, die mir Emails aus Indien schreibt.

Ich wende mich von dem Fenster und meinem bisherigen Leben ab und trete gegen einen Massageball, spiele ein bisschen mit ihm herum, schaue mir dabei die Gesellschaftsspiele im Regal an. Sie sind verstaubt. Da betritt Jürgen den Raum. Er sieht aus wie jeden Tag: Schwarze Adidas Samba, dunkelblaue Jeans, dunkelgrauer Wollpullover, dazu die Brille mit dem markanten schwarzen Gestell, seine grauen Haare lediglich halbwegs in Form gebracht. Er guckt ernst aus seinen weit auseinanderstehenden, hypnotischen Augen, dann sieht er mich und lächelt. Ich lächle auch.
„Gehen wir gleich einen Kaffee trinken?“, fragt er.
„Können wir machen“, antworte ich.
Mehr sagen wir nicht, denn es ist nicht die Zeit und es ist nicht der Ort, um zu reden. Stattdessen gucken wir uns nur an, so, als würden wir einen Pakt bekräftigen, der sicherstellt, dass auch der andere weiter aufmerksam bleibt für das Geschehen auf diesem fremden Planeten. Wir sammeln Eindrücke. Und gleich, in einer guten halben Stunde, wenn das Essen beendet ist, werden wir diese Eindrücke in unserem Refugium vergleichen. Wir werden die neuen Fundstücke des Anderen kommentieren und uns gegenseitig auf Orte hinweisen, wo es was zu suchen gibt. Aber obwohl wir das fast jeden Tag tun und es zu einem Ritual geworden ist, ist es nicht selbstverständlich, dass dieser Austausch stattfindet. Wir fragen uns stets aufs Neue, höflich und ein wenig schüchtern, ob wir nach dem Mittagessen einen Kaffee trinken gehen sollen, denn hier an diesem Ort ist es eine Frage des Respekts, den anderen nicht für sich zu vereinnahmen. Nie! Das bedeutet auch: Lautet die Antwort einmal „Nein“, sind keine weiteren Worte nötig. Es braucht keine Floskeln, keine Erklärungen, keine Ausreden. Der andere versteht. Ein „Nein“ bedeutet, dass das Kaffeetrinken an diesem Tag nicht stattfinden wird. Mehr bedeutet es nicht. Aber auch nicht weniger. Und das macht es einfach. Vielleicht wird man die Gründe später erfahren, dann kennt man sie, und vielleicht wird man sie nicht erfahren, dann gingen sie einen nichts an. Keinesfalls fragt man „Warum?“, denn so wie ich nicht will, dass Jürgen mich „Warum?“ fragt, so will auch Jürgen nicht, dass ich ihn „Warum?“ frage. Jeder spielt für sich allein, und auch wenn man manchmal ein Doppel bildet, oder sogar ein Team, zählt man am Ende trotzdem nur seine eigenen Punkte zusammen. Jürgen sieht das so und ich sehe das auch so.

Es ist jetzt zwölf und die ersten überqueren die Grenze. Ich höre, wie Stühle gerückt werden, und gehe als Letzter hinüber in die Essecke, um mich auf den nächstbesten freien Platz zu setzen. Ich bin nicht wählerisch, wo ich es esse. Keiner ist hier wählerisch und doch gleicht sich die Sitzordnung Tag für Tag. Die Pfleger merken das gerne an. Wir beginnen uns aufzutun und nachdem jeder die Kombination von Nahrungsmitteln, die ihm der Menüplan vorgibt, auf dem Teller hat, wird es still. Der wehleidige Reiseleiter mit der Tablettensucht streicht sich Paprikapaste auf seinen Vollkornbratling, der Architekt mit dem Bumskopf verschüttet ein Glas Saftgetränk. „Mist!“ Viel mehr passiert nicht. Kommt es am Tisch zu Gesprächen, werden sie meistens von den beiden Pflegern eingeleitet. Und da knapp zwanzig Leute an den Tischen sitzen, bedeutet das: Wenige reden und viele hören zu. Ist man selbst einer der Redenden, kommt man sich vor, als spräche man zur ganzen Gruppe, oder für sie, und das mag man nicht. Darum ist man meistens ruhig, es sei denn man will noch etwas Kartoffelbrei oder eine glänzende Scheibe Schweinebraten vom anderen Tisch. Dann muss man reden. Meistens muss man sogar das Schweigen brechen, das über der ganzen Ecke liegt. Man zerreißt die Stille, indem man urplötzlich einen Vornamen sagt, auch wenn der einer alten Dame gehört, mit der man noch nie geredet hat.
„Jutta!“ – Köpfe heben sich, Augen blicken rüber und die angesprochene Person schreckt auf – „Könntest du mir mal bitte den Kartoffelbrei reichen?“
Die eigene Stimme hört sich verstellt an und hallt nach, sodass man denkt, man hätte viel zu laut gesprochen, und die arme Jutta fühlt sich nun in einer Pflicht – und mit Pflichten ist es hier ja immer heikel. Also wird Jutta ganz nervös und schickt augenblicklich die Schüssel auf den Weg durch die Reihen, mit einer Mine, als ginge es um eine Depesche an den König. Eine Handvoll Leute muss nun das Besteck beiseitelegen und die Schüssel weiterreichen, und all das nur, damit man selbst sich noch zwei Löffel Kartoffelbrei nehmen kann. Manchmal belebt so eine Schüsselsendung schlagartig die ganze Gruppe und plötzlich fragen auch andere nach Schüsseln, oder lassen sich auftun. Wortwechsel entstehen und die Ruhe ist dahin, obwohl man sie mochte. Zwei Löffel Kartoffelbrei haben hier wirklich einen hohen Preis. Aber aufstehen und sich schnell selber nehmen, das ist gänzlich unmöglich, denn jeder Handgriff geschieht unter dem Blick der Pfleger, und sie fordern Kontakte von uns. Würde man aufstehen und sich selbst nachnehmen, würden sie sich eine Notiz machen, und am nächsten Morgen in der großen Runde müsste man sich vor den Ärzten rechtfertigen.
„Warum sind Sie gestern beim Mittagessen aufgestanden, um sich selbst Kartoffelbrei zu nehmen? Wollen Sie den Kontakt zu Ihren Mitpatienten vermeiden?“ Und so weiter.
Will man nicht derjenige sein, der die ganze Gruppe in Unruhe versetzt, bleibt nur eine Möglichkeit übrig: Man muss so lange warten, bis ein anderer öffentlich bekennt, noch Hunger zu haben. Er ist dann derjenige, der die Schüsselrochade in Gang setzt, und man selbst kann sich unbeachtet dranhängen.

Ich verzichte heute auf einen Nachschlag und mische mich auch nicht in die Unterhaltung von einem Pfleger mit einem Patienten an meinem Tisch ein. Nicht nur das Problem mit den vielen Zuhörern hält mich davon ab. Auch die Art und Weise, wie man am Tisch mit den Pflegern spricht, ist mir zuwider, denn man unterhält sich immer mit klar verteilten Rollen. Und alle Themen, die zu diesen Rollen passen, gehören entweder nicht an den Esstisch – oder sie sind belanglos. Auch das Gespräch am Tisch versandet bald wieder, denn der Pfleger stößt das Tor zu seinem privaten Garten, das er selbst zuvor einen Spalt weit geöffnet hatte, indem er etwas zu seinem Musikgeschmack gesagt hatte, jäh wieder zu. Dieser kurze Blick hinter die Hecke reicht, mehr will er uns nicht zeigen. Mich wundert es nicht, wer will schon uns in seinem Garten haben? Wir auf der anderen Seite, wir haben keine Gartentore mehr, bei uns latschen sie alle rein und zertrampeln die Beete. Aber wartet nur, ich bin schon dabei, mich nach einem Hund umzuschauen.

Es ist nun 17 Minuten nach zwölf. Alle Joghurts sind getauscht und gelöffelt und die Absurdität des Mahls wird auf die Spitze getrieben. Um eine weitere Rille in die Struktur des Tages zu gravieren, wird erneut zum Zeitplan gegriffen. Und darauf steht geschrieben: „Ende des Mittagessens: Zwanzig nach zwölf.“ Ein Fußballkader voller Menschen jeden Alters starrt nun schweigend auf leere Teller und ausgekratzte Schüsseln. Der Geruch des Zwiebelbratens liegt noch in der Luft und der Chefarzt schreitend grüßend vorbei. Er ist stets bemüht, wie ein Chefarzt zu wirken, und es gelingt ihm gut. An einem der Tische schaut der große hölzerne Mann mit den kurz geschorenen Haaren und dem roten Gesicht auf seine Armbanduhr. Aber die Zeit ist stehengeblieben. Manche haben ihre Augen geschlossen. Nur die Oberschwester, heute mit am Tisch, wendet ruckartig wie ein Huhn ihren Kopf hin und her und beäugt uns argwöhnisch. Endlich, endlich stützt sich der Mann mit der Armbanduhr schwerfällig auf den Tisch und wuchtet sich langsam hoch. Die Oberschwester fragt überrascht: „Haben wir es schon zwanzig nach?“ und der müde Pinocchio im Herkulesformat sagt artig: „Jo.“ Er trägt seinen Teller zur Spülmaschine und ist damit der erste, der sich in die Ereignislosigkeit des Nachmittags stürzen kann. Nur für die Afrikanerin ist die ganze Zeit hier ein einziger Trip, aber die ist auch nicht mit dabei bei diesen zähflüssigen Mahlzeiten.

Jürgen und ich bleiben sitzen und beobachten, wie es zum Stau in der Küche kommt. Wir sind entspannt, obwohl wir die einzigen sind, die etwas vorhaben. Aber wir haben auch noch gerade so viel Vernunft, um zu erkennen, dass in den neunzig Minuten bis zur Nachmittagsgruppe reichlich Zeit für einen Kaffee ist. Schließlich stehen auch wir auf. Jürgen wirkt zufrieden. Er hebt den Müllbeutel aus dem Eimer und wir gehen vor dem Zimmer der Pfleger in Stellung. Noch ist die Tür offen.
„Sie gehen sicher Kaffeetrinken?“, rät man richtig und lässt uns spüren, dass man unsere Bedürfnisse mittlerweile kennt – so wie man die seines Haustieres kennt: Erst Fresschen, dann Auslauf, und manchmal Streicheleinheiten, „Teamkontakt“ genanntWir sagen:
„Jawohl, ungefähr eine dreiviertel Stunde“, denn man will natürlich ganz genau wissen, wann wir zurück sind. Mir ist diese Kontrolle, dieses Bemuttern mittlerweile egal. Noch bin ich zwar ein Kätzchen, dem man die Balkontür aufmachen muss, damit es raus kann, das weiß ich. Aber bald werde ich eine Raubkatze sein, ein Tiger, oder, nein, ein Löwe, ja, ein Löwe, ein König, ein Pascha, bärtig, träge, Respekt einflößend und anmutig. Bin ich eine Katze, dann ist Jürgen ein Fuchs. Zu ihm geht man, wenn man merkt, dass sie einem nichts sagen, und dann sagt er einem was, und man sieht’s. Sie fragen ihn fast alle irgendwann irgendwas und er lässt es gütig geschehen wie ein Orakel und zieht leise seine eigenen Schlüsse. Jürgen ist schon lange hier, aber ist keiner von den alten Hasen, die verzweifeln, wenn sie merken, dass sie mittlerweile alte Hasen sind. Sie erkennen nicht, dass sie sich selbst auf die Schlachtbank legen müssen, damit man ihnen das Fell abziehen kann. Nur der Tod führt zur Wiedergeburt als freier Vogel – vielleicht tut er das. Aber sie sträuben sich, wenn sie das gezückte Messer sehen, und bitten und betteln, und manchmal kriegt der Schlachter Mitleid und sie dürfen alte Hasen bleiben, solange sie wollen. Welch ein Elend! Einer auf Entzug schlurft vorbei und beäugt uns sehnsüchtig, weil wir rausdürfen. Er ist ein Goldfisch.

Nach ein paar Minuten auf januarkalten Straßen stehen wir vor der Tür des kleinen Cafés. Ein Pärchen kommt heraus und wir treten ein. Der Mann hinter der Theke begrüßt uns geschäftsmäßig. Er ist im besten Alter, mittelgroß und hat eine Stirnglatze. Sein Resthaar ist schwarz und kurz getrimmt. Er könnte Italiener sein mit seinem dünnen, graumelierten Schnurrbart und dem weißen Hemd, das er jeden Tag trägt. Er nimmt seinen Job ernst, denn es ist sein Laden, vielleicht nicht sein erster, und für ihn heißt es wohl „now or never“. Ich tippe auf „never“, aber bis dahin trinke ich meinen Kaffee gerne bei ihm.
„Zwei Latte?“, fragt er und wir bejahen.
Er weiß, dass wir nicht wegen ihm kommen, sondern wegen des Fensters mit dem Bartisch, an den wir uns nun stellen. Er weiß auch, dass niemand wegen ihm kommt, aber seine Enttäuschung darüber versteckt er gut. Er bringt uns die beiden Gläser und wir schauen aus dem Fenster auf die Großstadtkulisse. Busse und Bahnen kreuzen sich, Autos stoßen ruckartig in den Kreisverkehr vor, Fußgänger latschen ihnen vor die Motorhaube und Radfahrer touchieren fast ihre Türen. Bauarbeiter beackern den Asphalt mit Presslufthämmern und Baggern. In der Ferne sieht man das alte Stadttor. Direkt vor dem Fenster ist ein Zebrastreifen und Grüppchen nach Grüppchen bleibt dort kurz stehen, wie Models am Ende des Laufstegs. Wir sehen den Auftritt von verdreckten Pennern und von karierten Bürohengsten, von rosa Türken und von pausbäckigen Metzgern, von geblendeten Arzthelferinnen und von sympathischen Soldaten. Wir sehen Menschen, die sich freuen, und Menschen, die gehetzt sind, Menschen, die träge wirken, und Menschen, die uns gefallen, wir sehen Menschen mit Hunden und Menschen mit Mützen. Wir sehen Liebe, wir sehen Sorgen, wir sehen Wut und wir sehen Trost. Wir sehen Gedanken, Illusionen, Träume und Schmerz. Und wir sehen den Wienerwald. Wir hören Musik, wir hören Motoren, wir hören Maschinen und wir hören Gehupe. Wir hören Gespräche, Gelächter, Geschrei und Geweine. Wir hören den Barmann kramen und die Kaffeemaschine rumpeln. Wir hören die Tür quietschen und Leute bestellen. Wir hören einander und Jürgen hört auch noch Dinge, die ich nicht höre. Wir riechen den Kaffee, wir riechen Parfüm, wir riechen Zigarettenrauch und wir riechen Kuchenduft. Wir riechen noch nicht den Frühling, aber wir wissen, dass er kommen wird, irgendwann. Und über all das reden wir, hier im Café. Jürgen erzählt mir von seiner Jugend, von Afrika, von seinem Vater, dem Ingenieur, der verunglückte Dammarbeiter verschwinden lassen musste, während die Mutter auf der Terrasse saß und trank. Er erzählt mir von seiner Wohnung in Paris, von den Aktien und den Partys, und natürlich von den Frauen. Er erzählt mir, wie er wochenlang im Puff eingezogen ist, um dort Dinge zu tun, die man nicht erzählen kann. Ich weiß nicht, was er meint, er wird wieder orakelhaft, aber ich verstehe, dass es etwas mit dem Rätsel zu tun hat, das er so angestrengt zu lösen versucht. Alles dreht sich bei ihm um die Frauen, die er magisch anzieht, auch wenn er keine Eins-Siebzig groß ist und ein Bäuchlein hat. Trotz seines Alters verfällt auch er ihnen hoffnungslos. Allein in der Klinik hat er schon drei verschlissen. Ich erzähle ihm von Hemingway, vom kurzen glücklichen Leben des Francis Macomber, und er ist begeistert, will sich das Buch direkt kaufen, so wie er sich Blood Diamond am nächsten Tag direkt noch einmal angesehen hat, weil der Film ihn nicht losließ. Ich erzähle ihm von der schönen Schwester mit der schmalen Nase, den fein gezogenen Lippen und den stechenden Bernsteinaugen, und wie ich ihr am Vortag gegenübersaß. Ich erzähle ihm, wie sie immer die Augen aufreißt, wenn sie mich erreichen, mir etwas vermitteln, mich mit ihren Worten ermutigen will, dabei sind es doch nicht ihre Worte, die meine Seele behandeln. Nein, die Medizin sind ihre gelb-glühenden Wolfsaugen, für die allein ich tausend Jahre weiter leiden würde. Jürgen sagt nicht, dass sie ihn auch so anschaut, dass sie jeden so anschaut, er sagt, ich solle sie später, wenn wir da raus sind, einfach mal zu einem Kaffee einladen, und ich sage „Vielleicht“, auch wenn ich weiß, dass ich das niemals tun würde, denn wenn sie nein sagte, wäre ich enttäuscht, und wenn sie ja sagte, wäre ich noch viel enttäuschter. Denn mit ihr auszugehen hieße, sie später so zu berühren, wie man eine Frau berühren muss, und das würde die zierliche Porzellanstatue zerbrechen. Das will ich nicht. Mir ist es lieber, ihre Augen behalten ihre Tiefe und helfen mir weiterhin dabei, nach dem Essen nicht aufzuspringen wie die anderen, sondern in Ruhe sitzen zu bleiben und zu denken, ich wäre gesegnet. Und wenn es nur für zwei Stunden ist. Ich erzähle Jürgen dann doch von meinen Gedanken, ansatzweise, und er sagt:
„Junge, versuch bloß nicht, die Frauen zu retten.“
Ich sehe seine Stirnfalten und seine kleinen Pupillen und weiß, dass er weiß, wovon er redet.

Es wird Zeit zurückzugehen und wir laufen schweigend nebeneinander her durch ein Leben, das nicht mehr unseres ist. Und vielleicht wird es auch nie mehr unseres sein. Oben im Flur wirkt Jürgen plötzlich abwesend. Er sagt, dass er sich noch kurz hinlegen müsse, und geht dann sofort mit kleinen Schritten zu seinem Zimmer. Ich schlendere wieder zum Aufenthaltsraum. Vielleicht sitzt ja wieder das Mädchen auf dem Sofa und vielleicht beachtet es mich dieses Mal. Ich spüre, wie mein Bauch drückt. Später werde ich auch noch den Kartoffelbrei loswerden müssen.


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