Schwarzer Sumpf

Short Stories

Mein Kamerad, der Eisbär

Wir waren in einem Herbstwäldchen vielleicht einen Kilometer von der Jugendherberge weg. Kirchner saß neben mir auf der Bank und einer der beiden Polen reichte die Tüte weiter. Mir wurde mulmig. Ich sollte es lassen. Das Kraut schoss meinen Kopf in eine Einzelzelle, wo er wie eine kleine Eisenkugel klackernd zwischen den Wänden hin und her sprang. Ich zog trotzdem. Die Wolken begannen durch das Astwerk zu sickern. Ich sah den Teich vor uns an und dachte an eine Pfütze Pisse. Die Polen laberten irgendeinen Scheiß, rissen Sprüche und sendeten aggressive Vibes. Kirchner hielt das Gespräch mit ihnen am Köcheln. Gott sei Dank, vertrieben seine kryptische Ausdrucksweise und seine grundlos amüsierte Miene sie bald.

Dieser Text ist auch in der ersten Ausgabe der österreichischen Literaturzeitschrift „Kassiber“ erschienen.

Ich blieb alleine mit ihm auf der Bank sitzen. Er war ein seltsamer Zeitgenosse. Ich hatte erst seit ein paar Monaten mit ihm zu tun. Er war riesig und teigig und hatte hervorquellende Augen, die meistens gerötet waren. Sein Haar hatte die Farbe von Kernseife, aber im Kopf war er schnell. Sehr schnell. Vielleicht sogar schneller als ich. Schwer zu sagen, denn man wusste nie so recht, wie er die Dinge meinte. Trotzdem hatten wir direkt einen Draht zueinander gehabt. Wir teilten die Vorliebe für Zerrbilder. So hatten wir schon bald ein paar gemeinsame Ikonen wie das Ehepaar Ruda, das den «Satansmord von Witten» begangen hatte – eine Wortwahl, mit der die Bild ausnahmsweise mal goldrichtig lag: Die beiden Rudas tranken Blut und gelangten in die Öffentlichkeit, weil sie einem Arbeitskollegen von ihm den Schädel mit einem Hammer eingeschlagen hatten. Danach hatten sie die Leiche mit einer Machete zerstückelt, und ich glaube, ab diesem Punkt wussten sie dann selbst nicht mehr so recht, wohin das alles führen sollte. Das verdarb ihnen aber nicht die Laune. In der Gerichtsverhandlung grinsten sie in die Kameras und zeigten dabei die Teufelshörner. Ein anderer Held von uns war Gerhard Schröder. Wir sammelten Fotos von ihm, auf denen er im quietschbunten Trainingsanzug breitbeinig gegen einen Fußball bolzte oder sich mit glühender Birne einen Pimmel von Bratwurst in den Mund schob. Über so was lachten wir, Kirchner weniger laut als ich. Bei ihm kam immer nur ein abgehacktes Hö-hö-hö heraus.

Er hielt mir einen Stöpsel seiner Kopfhörer hin. «Hör mal!»
Ich steckte ihn ins Ohr und wurde von schrecklichem Deutsch-Punk überrannt. Trotzdem ließ ich den Stöpsel drin. Und während mir verstimmte Gitarren die Gehörgänge vollkotzten, betrachtete ich den Teich voller Galle, das braune Laub auf dem Gehweg und die in Nebel gehüllte Schnellstraße hinter dem Teich. Was war hier los? Hatte das Elend höchstpersönlich die Tuben auf der Palette ausgequetscht? Das war ja unfassbar beschissen alles und ich fragte mich, ob dies der hässlichste Moment meines Lebens war. Ja, so war es.

Ich nahm den Stöpsel raus.
«Lass zurückgehen», sagte ich und Kirchner brummte zustimmend.
Wir erhoben uns. Der Nebel verdichtete sich, ja, er hüllte uns nun geradezu ein. Mein Kopf begann zu rotieren: Wie sollte ich es an den Lehrern vorbei auf unser Zimmer schaffen? Ich war überzeugt, dass auf meiner Stirn in roten Lettern stand: «Bekifft!» Es musste da stehen, so wie ich mich fühlte. Irgendeinen Zusammenhang von Innen und Außen gab es ja wohl. Es konnte gar nicht sein, dass man innerlich die Welt verließ, äußerlich aber in ihr zurückblieb. Also: Wie nur sollte ich es auf das Zimmer schaffen? Diese Frage hatte höchste Brisanz, denn ich hatte es fertiggebracht, sowohl in der Schule wie auch zu Hause ein Bild von mir zu zeichnen, das einen Musterschüler zeigte. Leider war ich nie ein guter Lügner. Meine einzige Chance war, ein Poker-Face zu simulieren und schnurstracks an den Lehrern vorbei aufs Zimmer zu marschieren, ohne Worte raus aus der Schusslinie. Wir liefen zur Straße und dann neben der Fahrbahn her, kamen aber nicht voran, so wie es auch in Träumen manchmal vorkommt. Die Autos rasten an uns vorbei. Sie hatten keine Relevanz für mich. Ich war gefesselt von ewigen Sorgen: Wie sollte ich unentdeckt bleiben? Aus den Augenwinkeln sah ich Kirchner neben mir hertrotten. Er bewegte sich tapsig, war gänzlich unsportlich und unmännlich, wesenhaft und geschlechtslos. Und ich schwöre, irgendwann wurde er zu einem Eisbären. Ich weiß, dass das nicht sein kann, Gras erzeugt keine Halluzinationen. Und es war auch keine Halluzination. Und doch lief ich neben Kirchner als Eisbär her durch einen raumlosen Nebel. Ich vergaß völlig, wo ich war, und geriet unbemerkt immer weiter auf die Straße. Kirchner zog mich am Ärmel zu sich heran und sagte mit sonorer Stimme, «Pass auf!»
Ich schaute zu ihm hoch in sein zufriedenes Gesicht und ein Lastwagen fuhr so dicht an mir vorbei, dass ich am Hals den Luftzug spürte. Ab da fühlte ich mich beschützt von dem großen, weißen Eisbärwesen neben mir.

Endlich tauchte vor uns die Jugendherberge auf, einer dieser unvergleichlich hässlichen holländischen Zweckbauten. Kirchner ging voran und öffnete die Tür. Wir betraten die Eingangshalle, die zugleich Aufenthaltsraum war. Und tatsächlich, die gesammelte Lehrerschaft war da, unterhielt sich mit den Schleimern oder kickerte mit ihnen. Ich konnte nicht fassen, wie gut all diese Menschen in den hellen Raum passten, der trotz der ganzen Möbel und Gestalten vollkommen leer war. Kirchner sagte «Hallo» und ich schob schnell auch ein «Hallo» hinterher, ein paar grüßten zurück, dann stiegen wir hastig die Treppe hinauf und gingen auf unser Zimmer, wo die anderen herumsaßen und Karten spielten. Ich fühlte mich, als wäre ich über den Strand der Normandie gestürmt, und kletterte hoch auf mein Bett, das mich empfing wie ein Mutterleib. Der grausame Teich lag bereits ein Leben zurück. Ich ließ mir Chips hochreichen und lehnte mich an die Wand. In Sicherheit! Da klopfte es an die Tür. Es war der Stufenleiter. «Kirchner, kannst du bitte mal mitkommen?»
Kirchner erhob sich und folgte ihm hinaus. Ich schrie. Wir hatten es doch schon durchs Wasser geschafft, über den Stacheldraht und vorbei an den Rommelspargeln und Panzersperren. Und jetzt, auf der Düne mit dem wogenden Junigras zerfetzte eine Mine den friedlichen Eisbären. Trauer stieg in mir auf. Dann kam mir ein Gedanke: Vielleicht war ich gleich dran. Vielleicht würden sie gleich mich in den Verhörraum zerren. Panik ohne Ventil. Sie hatten mich in eine Falle gelockt, im wahrsten Sinne des Wortes. Aus diesem Zimmer gab es kein Entrinnen mehr. Gleich werden sie erneut an der Tür klopfen, beiläufig, und mich dann mitnehmen. Und kein Eisbär war mehr da, um seine schützende Tatze über mich zu halten. In den nächsten Minuten durchlief ich alle Stadien: Entsetzen, Revolte, Trauer, Akzeptanz. Am Ende war ich ein Philosoph, bereit, mit erhobenem Haupt zum Schafott zu schreiten. Die anderen bekamen von meiner Weisewerdung natürlich nicht das Geringste mit. Dann kehrte Kirchner zurück, allein. Wir fragten ihn, was war, und er sagte ruhig wie immer, «Der hat mich über meine Fehlstunden ausgefragt, aber ich wollte ihm die ganze Zeit nur in seine rote Nase kneifen.»
Meine Brust zersprang vor Freude – wir hatten überlebt! Und jetzt wusste ich: Kirchners Kopf klackerte auch durch eine Einzelzelle. Leider tut er das auch heute noch.


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